Heute habe ich es geschafft! Ich bin endlich Russe geworden. Das heißt, ich besitze nun ein Papier auf dem das steht. Oder zumindest etwas Ähnliches, was ich so ganz genau auch nicht verstehe. Im Grunde ist es auch nur ein Nachweis, dass ich die Sprache beherrsche. Oder auch nur ein Zertifikat, das die höchst erfolgreiche (mit „5“ abgeschlossen, das ist das Maximum hier) Teilnahme an 64 Stunden Russischunterricht an der Uni bescheinigt.
Wenn man das alles so genau nimmt, vergeht der Zauber dieses Papiers auch im Nu. Aber davon will ich mich nicht beeindrucken lassen. Von den Leuten hier im Haus habe ich dafür schon Annerkennung bekommen. Soll heißen, dass sogar Jura nichts Abfälliges von sich gegeben hat, als ich ihm den Zettel unter die Nase hielt. Das hat mir echt Mut gemacht. Seine rausgelullte Frage, die dem folgte habe ich natürlich direkt wieder nicht verstanden, was wieder Balsam für die Seele des Realisten und Salz in die Wunde des Glücklichen war. Nachdem er dann noch mal deutlich wiederholt hatte was er wollte, konnte ich dann aber doch folgen und ihm antworten, dass das Blättchen mir momentan wirklich nichts nützt, aber eventuell später mal von Bedeutung sein könnte, bla, bla, bla.
Ach ja, zu Jura könnte man hier allein einen ganzen Roman und zwei Bildergalerien reinstellen. Die Bildergalerien besitze ich (zumindest zum Teil) schon hier, auf dem Computer, während der Roman nur in meinem Kopf schwirrt und einen Teil dessen versuche ich diesem mal zu entlocken, um wieder Futter für alle Lesebegierigen in den großen Trog „Internet“ zu füllen.
Sicher werden sich einige schon gefragt haben was das überhaupt für ein komischer Typ sein muss, der dreißig Jahre seines Lebens im Knast verbracht hat. Da kann ich natürlich nur zustimmen, denn alles andere wäre nur eine dämliche Romantisierung eines stieseligen, alten Mannes, was mir, Novalis sei Dank, fern liegt.
Zuerst mal zu seinem Äußeren: Ich kann mich im Moment nicht erinnern, ob ich schon von der riesigen Kreml-Tätowierung auf seiner Brust geschrieben habe und bin auch zu faul um nachzusehen, deswegen erwähne ich dieses „Markenzeichen“ schon mal im voraus, denn es ist wirklich das, was einem ins Auge springt, wenn man den guten Mann im Sommer das erste Mal „oben ohne“ kennen lernt. An sich ist Jura von kompakter Gestalt. Eher klein gehalten, ein wenig gedrungen, eher ein bisschen zu viel auf den Rippen, was zum großen Teil aber auch Muskelmasse ist, was man hin und wieder mal schmerzlich zu spüren bekommen kann. Den Kopf zieren zirka 73 Haare (ich bin durch das Maschrutkafahren zu einem wahren Zahlengenie geworden, weswegen erzähle ich später) oder, einfach ausgedrückt, ein kleiner Kranz um den Kopf, ein weißer Heiligenschein, den er sich ständig kurz rasieren lässt. Den Bart rasiert er sich nicht gerade regelmäßig, aber so, dass er meist ansehnlich ist. Der Kopf ist im Großen und Ganzen eine Bowlingkugel, die er auch ohne weiteres hin und wieder als Abrissbirne verwenden kann (Achtung: Kopfstoß, Herr Zidane!). Die Augen sind meist eh schon kleine Schlitze in einer Mondlandschaft aus Leder, die von seinem Gesicht übrig geblieben ist. Wenn das Bärchen aber maulig wird, können diese kleinen Schlitze immer noch weiter zu Schießscharten böser Blicke werden.. Den sibirischen Bären komplettieren ein (weil zahnloser) eingefallener Mund und seine Klamotten, die aus uralten Strickpullis (manchmal auch mit Kapuze) und Jogginghosen bestehen.
Wichtig ist bei Jura, dass man nie und ich wiederhole „NIE!“ davon ausgehen sollte, dass er gerade ausgelassen sei. Egal wie schön der Tag ist oder wie lange man für sein Abendessen am Herd stand, wie lange man das Haus aufgeräumt hat, wie viel man irgendwo geschuftet hat oder was man sonst so verbracht haben mag, was einem Gutes oder überwundenes Schlechtes widerfahren ist: es ist ihm (im besten Falle) scheißegal. So hat Sascha heute ein neues Auto für sich gekauft: Seinen ersten Wagen. Wir (das sind Marco, Sascha und ich) haben das natürlich gleich mit einem Bierchen und Zigaretten in der Kurilka eingeweiht. Jura hat nur sein Bier genommen und dann nichts mehr gesagt, bis sich das Thema änderte. Als Marco und ich letztens Hühnchen in Pilzsoße zubereitet haben (und das hat lange gedauert im Vergleich zu einer Packung Pjelmini(russische Spezialität, sieht aus wie weiße Tortellini, der Teig ist aber ein anderer und die Füllung ist nur auf Fleisch beschränkt. Was der Unterschied zwischen russischen und sibirischen Pjelmini sein soll habe ich noch nicht begriffen)), kam Jura zum Tisch, aß die Hälfte, nahm sich dann eine Schnitte Brot, sagte, es würde ihm nicht sonderlich schmecken und ging wieder. Als es im Sommer herrlich warm war (nachdem für ein paar Tage schon ein bisschen Kälte eingekehrt war, also quasi Altweibersommer) bemerkte ich einmal, nur um ein Gespräch zu führen, was für ein schönes Wetter wir doch hätten (ich bin selbst kein Freund von Wettergesprächen, wenn man aber nicht viel anderes sagen kann, muss einem das, der Kommunikation zur Liebe, verziehen werden). Was für ein Unwetter da aufzog! Sofort wurden die Schießscharten bereitgemacht, ein Aufklärungsblick wurde in meine Richtung gesandt. Dann: Feuer frei! „Ein Scheißwetter haben wir! Bei der blöden Sonne gehen uns doch alle Blumen ein! Und wir schwitzen uns hier sonst was zusammen...“
Und das sind noch die besseren Zusammentreffen mit Jura. Die meiste Zeit über verstehe ich nämlich überhaupt gar nichts von dem was er mir so erzählt. „Erzählt“ ist auch wieder nicht das richtige Wort. Eigentlich brüllt er mich fast an, da er wohl meint, dass ich dann besser verstünde was er will. Nur greift in dem Moment für mich das eher nicht-sprachliche Element eines lauten Schalls, was mich in eine eher Abwehrposition drängt, als dass ich genauer zuhören würde und könnte was der nette Alte denn von mir will. Der Probleme sind nämlich gleich zwei. Zum einen lispelt Jura durch sein „modifiziertes“ Mundwerk ungemein und spricht meist sowieso schon unverständlich. Dazu – und das ist gravierender – kommt dann meist noch der Slang. Und was für einer! Ich hatte schon fast vergessen, dass man sich komplett außerhalb jeglicher Wörterbuchvokabeln unterhalten kann. Und das tut er gern.
So kann man sagen, dass es meist nicht einfach ist mir Jura zusammen zu leben. Warum mache ich das aber trotzdem gern? Zum einen, weil ich weiß, dass er eigentlich ein netter Kerl ist, aber das ist Weltanschauung, meine religiöse Überzeugung und für viele eine so hohle Floskel, dass man mich allein dafür in die Tonne kloppen dürfte. Aber es gibt ja noch einen anderen Grund. Wenn dir so ein Stinkstiefel nämlich erlaubt mit ihm zusammen zu kochen (und sei es auch nur neben ihm zu stehen und zuzuhören und zuzusehen) oder dich eine einzige Schraube bei der Reparatur eines Stuhles andrehen lässt (nachdem du ihm zehnmal damit auf den Sack gegangen bist, dass du deine Hilfe anbietest) oder (und ich gebe zu, dass dieses Beispiel schon paradox scheint) dir mal mit voller Wucht (aber auch in voller Freundschaft) gegen den Oberschenkel boxt, verstehst du, dass er dich doch auch gern hat. Das zeigt er nur selten, aber er tut es. Mittlerweile zu einem Running-Gag für mich (wie er das genau sieht weiß ich nicht) haben sich gewisse Situationen in der Kurilka entwickelt. Ich sitze drinnen und rauche vielleicht gerade meine vierte Zigarette am Tag, während von seinen schon etwa zehn im Aschenbecher liegen (und vielleicht noch genau so viele draußen im Garten). Und dann kommt der Auftritt: „Ты куришь и куришь...“ („Du rauchst und rauchst…“), was von einem vehementen Schütteln der großen Bowlingkugel begleitet wird. Darauf grinse ich und zwinkere ihm zu. „Иди на хуй, блядь!“ (Ist sicherlich auch nicht ganz richtig geschrieben, vielleicht gibt es auch genau so wenig eine Schreib- wie eine adäquate Übersetzungsweise, ich übersetze mal am wenigsten krass mit: „Ach, bleib mir doch gestohlen, Alter!“ (eig: „Geh zum Schwanz (oder ein anderes obszönes Wort für Penis)“ – das letzte Wort lässt sich einfach gar nicht übersetzen) murmelt er dann vor sich hin und geht wieder raus, um draußen entweder die Tauben zu füttern oder irgendetwas zu bauen.
Sein „ein und alles“ ist im Übrigen der Köter, Muktar. Er hat ihn sogar als Hintergrundbildchen auf seinem neuen Handy. Man stelle sich den alten Bären mit seiner umgedrehten Mütze, seinem Pulli mit Kapuze und einem modernen „Klapphandy“ vor – zu geil. Könnte direkt aus der Bronx kommen. Ein bisschen zerfurcht, sogar für einen „Gangsta“, aber sonst ganz cool.
Ich zieh mir noch einen Film rein und gehe dann schlafen.
Gute Nacht.
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3 Kommentare:
Hi,Jörg.Das bin ich wieder.Ich habe dein lezte Komentar gelesen.Du hast die letzte Tage wirklich viel erlebt.Hart,aber hat sich gelohnt.Ich versuchte schon damals dir alles zu erkleren.Dann wurde es mir klar,dass alles kann man nicht erklären,man muss alles erleben.Langsam wirst du einen "Russe".Deine Umgebung ist im Moment(kann man so sagen)ganz gut.Wegen der Wörter,die du von deinen Bekanter gehören hast,sind ganz nett(die Erklärung schreibe ich dir später im meinen Brief).Bei solchen Leute sind die Sprache ganz normal(die literarische Wörter dienen nur für die Verbindung zwischen den anderen Wörter. Das habe ich auch schon mal erlebt.).Ich wunsche dir alles gute und nochmal danke für deine Berichte. Tatjana.
Hi Jörg,
Herzlichen Glückwunsch nachträglich zum Geburtstag. Meine Eltern haben versucht dir schon am 19. zu schreiben aber ich weiß nicht, ob das geklappt hat, da ich ja beim Bund in Rotenburg war.
Es schön wieder mehr von dir zu lesen zu bekommen.
Bis auf die zweiwöchige Übung hatte ich bis jetzt nicht viel zu tun. Aber mit dem Laptop kann ich wenigstens zocken, Call of Duty 4 hatte ich in 3 tagen durch :D.
Die Übung war im Hundsrück Gebirge, daher wars richtig kalt, und das Unterkunftsgebäude wurde 1935 gebaut (4 Toiletten und 4 Duschen für 80 Mann). Aber sonst hat es richtig Spaß gemacht. Ich hatte 1 Tag Wache am sogenannten Kettenabstellplatz, auf dem die Panzerhaubitzen und Raketenwerfer der Artillerie standen. Die waren dort auch auf Übung, also hatte ich viel tun (Tor auf/zumachen) aber auch viel zu hören und zu sehen .
Die 2 Tage darauf musste ich mit ein paar anderen Steinbrucharbeiter spielen und vorbeikommende Patrouillen in gebrochenem Deutsch zutexten. Dann wurden wir ausgebildet, was vor allen Dingen
Gruppengefechtsschießen( praktisch Counter-Strike mit Klappfallscheiben) bedeute .
Alles Gute und bis dann
Lars
Danke fuer die Kommentare, und den Geburtstagsgruss. Das ueber deine Eltern hat nicht geklappt, Lars, aber ich schreibe dir gleich auch mal 'ne Email, damit du auf dem Laptop nicht nur zocken, sondern auch mal was lesen kannst.
Joerg
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