Da hatte ich es also doch nicht abwenden können. Morgens hallte es mir noch im Kopf wider: Du willst eigentlich gar nicht dahin. Mittags dann mit gepackten Sachen in die Maschrutka. Schneller Abschied von Sascha, Marco, Jura und Ruslan. Erstmal eine Betäubung: Led Zeppelin ins Ohr und nach dem Päckchen Camel in der Jackentasche fühlen – ich bin gerüstet. Was war eigentlich los?
Schon seit Wochen musste ich mich mit dem Gedanken herumschlagen an diesem Freitag nach Kamyschyn zu fahren. Ein Kaff mit einigen tausend Einwohnern irgendwo südlich in der Nähe der Wolga. Dort sollte ein katholischer Jugendtreff mit Studenten aus Wolgograd stattfinden. Gleich zu Anfang gingen bei mir schon die Alarmglocken. Singen, kreativ sein, seine Gefühle mitteilen, wenig schlafen, kein Alkohol. Eigentlich ist das alles kein Problem. Man muss das ganze nur ironisch mit der richtigen Clique aufnehmen können. Aber da formierte es sich ja schon, das Problem. Diese Gruppe war ja diesmal gar nicht mit von der Partie. Vielmehr reiste ich ja mit ca. 20 wenig bekannten Studenten und Jugendlichen aus der Gemeinde, die mir bisher nur dadurch aufgefallen waren, dass sie in der Kirche alle unglaublich motiviert zu Werke gingen und ständig die Miene des Unschuldslammes aufsetzten, die Schultern unter der Last der Welt gekrümmt – alles in allem auf den Hintergrund ihres außerkirchlichen Lebens projiziert nette Karikaturen unsympathischer Heuchler, die sich selbst aber auf gar keinen Fall als solche wahrnehmen. So hatte ich schon seitdem ich davon wusste, dass man mich unbedingt auch auf diesem Treffen dabei haben wollte, Bauchschmerzen, auf die ich Marco auch bereits häufig schon aufmerksam gemacht hatte. Der sollte zunächst auch nach Kamyschyn fahren, konnte aber letztlich aus guten Gründen, die unseren Hausfrieden hier bedrohten doch noch absagen. Schließlich kam dann noch der Tod seines Ordensgründers und Mentors dazu, der ihn dazu bewog nach Italien zu fliegen.
Dies eröffnete für mich natürlich eine neue Möglichkeit. Wenn ich es so hinstellen könnte, dass ich in seiner Abwesenheit der Verantwortliche im Haus wäre, hätte ich daraus eine nette Entschuldigung für mein Fernbleiben stricken können. Frohen Mutes bot ich mich also Marco an, zuhause zu bleiben. Der aber konnte oder wollte den Wink nicht verstehen und versicherte mir, ich könne ruhig fahren. So machte ich erstmal gute Mine zum bösen Spiel.
Es war ja auch nicht so, dass ich meine bösen Vermutungen nicht selber am liebsten widerlegt hätte und es schien wenige Minuten nach unserer Abreise auch der allergrößte Blödsinn gewesen zu sein – die Leute schienen nett, man konnte sich auf Englisch unterhalten, sie sahen im Fernsehen die gleichen Programme wie ich und unsere Wellen schienen einige Schnittpunkte zu haben. Dann aber kam nach etwa einer Stunde Busfahrt der Tiefpunkt der Tagesparabel: Das Gespräch wurde auf den Glauben gelenkt und ging mir prompt auf den Sack. Mir präsentierte sich ein egozentriertes Erkenntnisvermögen, dass ich direkt hätte kotzen können. „Gott als alter Mann mit einem kleinen Büchlein auf einem kleinen Tischchen im Himmel, in das er mit einem Kuli die guten und schlechten Taten einträgt, um dann am Ende eines jeden Lebens die große Aufwertung zu starten, simpel zu addieren und dann aus den drei Toren „Himmel“, „Fegefeuer“ und „Hölle“ auszuwählen. Der Mensch lebt also, um am Ende nicht den „Zonk“ ziehen zu müssen.“ – das wäre so ziemlich die im Raum abgestandene Quintessenz dessen, was mir so als zentraler Glaubensinhalt präsentiert wurde. Gut, dass mich ungern übergebe. Ich habe dann geschlafen, ohne zu antworten. Ich will gar nicht sagen, dass alle so dachten und dass es dort in dem großen Hinterweltlerkaff gar keine normalen Menschen gab, sodass ich tags in Versuchung gekommen wäre mit einer Laterne durch die Gegend zu laufen, aber drei oder vier von zwanzig sind für mich einfach nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Vielleicht bin ich – um nun auch mal ein Kompliment loszuwerden – einfach durch euch daran gewöhnt nette, intelligente und offene Menschen um mich zu haben. Nun ja, die Tage habe ich dann also primär mit beten verbracht. Ich sage „verbracht“ und nicht „vertan“! Nur die Zeit, die sich in Gruppenarbeit ergoss habe ich wirklich vertan, da dort wieder versteckt dieser Glaube der „Hinterweltler“ auftauchte, den ich dann schnell wieder versucht habe zu verdrängen. Am Ende dieser drei Tage war ich dann so angefüllt vom ewigen Transzendieren, dass mir beinahe schon die Kippen ausgegangen wären. Ich gehe nun weiter nicht auf die Inhalte des Treffens ein – es ging im Weitesten darum Ruhe für sich selbst zu finden, was ich durchaus ganz gut fand, aber was ich sonst so getan und gedacht habe ist dann doch entweder zu persönlich oder zu langweilig, um es hier niederzuschreiben. Meist letzteres. Ein wahres Highlight der Fahrt war dann noch der Weg zurück: Wir saßen in einer etwas größeren Maschrutka, ein geräumiger Autobus, der von uns schon fast komplett ausgefüllt wurde. Jörg hatte zu diesem Zeitpunkt natürlich schon beschlossen sich nun, da die Konsequenzen nicht mehr furchtbar werden konnten, abzukapseln und steckte sich seine Ohrhörer rein. Herrlich: „Slayer“ – „South of Heaven“. Lyrics, die vor allem nicht vortäuschen intelligent zu sein und echte Gitarren und echte Doublebase. Aber ihr kennt den Sound ja. Nun stellt euch vor, dass gerade an der Stelle, in der mit aller männlicher Brutalität „Before you see the light / you must die!“ herausgeblökt wird, eine Akustikklampfe einsteigt und ein glockenheller Frauensopran „Preiset den Herrn“ anstimmt. Wer sollte da nicht den Glauben an die Menschheit verlieren? Überhaupt: Ich konnte – das hat mich natürlich am meisten geärgert – noch nicht einmal irgendetwas dagegen unternehmen. Hat schon einmal jemand versucht einen neokatholischen Haufen Jugendlicher zu stoppen? Nein und ich auch nicht. Die waren schließlich gerade voll gepumpt mit jeder Menge „positiver Energie“ und die mussten sie erstmal zu Dreiakkordmusik langsam abbauen. Meine Antwort: „Tool“. Nützt aber auch nichts. Wenn mir die Ohren nicht hätten abfallen sollen, konnte ich die Musik einfach nicht noch lauter drehen. So fügte ich mich also in mein Schicksal zwischen ach-so-lieben Menschen und resignierte geistig völlig. Ich frage mich welcher Gattung Freak wohl der Fahrer angehörte, der den „Gesang“ auch noch die ganze Zeit billigte. Geschenkt. Wahrscheinlich sind Russen da immun.
Irgendwann, gegen 18:00 Uhr sind wir dann ja auch in Wolgograd angekommen und ich konnte mich allein auf den Nachhauseweg machen. Das war echt super.
Von der Überdosis, die ich damals bekommen habe, konnte ich bisher aber immer noch nicht erholen. Ich war erst einmal wieder zur Kirche danach. Da blüht mir noch ein Kreuzverhör bei der nächsten Beichte.
Ich denke, ich muss lernen „nein“ zu sagen.
Nächster Bericht.
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