Samstag, 15. Dezember 2007

„Bis morgen, wir sehen uns…“

Nun wollte ich ja nicht auf einmal so viel schreiben. Am heutigen Tag gehen natürlich aber direkt alle Vorsätze der gestrigen Nacht zu Bruch. Es ist einfach mal zuviel passiert, als dass ich warten könnte, es nieder zu schreiben, bis eine Woche vergangen ist. In gewisser Hinsicht war dieser Tag natürlich auch ein ganz normaler. Ich bin früh morgens aufgestanden, habe geduscht und bin zur Arbeit gefahren, habe sie erledigt, bin zurück gefahren und habe gegessen, meinen Mittagsschlaf gehalten, dann zum zweiten Teil der Arbeit übergegangen, wiedergekommen und wieder gegessen, Karten gespielt und sitze nun wieder noch eine oder anderthalb Stunden vor dem Laptop. Heute Morgen war aber direkt etwas Gravierendes anders als sonst.
Jura und Andrej verbindet ein gemeinsames Schicksal. Beide trinken sehr gern Wodka und haben kein ständiges Zuhause. Beide frieren also jede Nacht gemeinsam und kommen oft zusammen zum Wagon, um dort die warme Mahlzeit einzunehmen. Sie gehen in die katholische Kirche, sooft sie es einrichten können und haben auch schon einmal versucht für ein paar Tage hier im Haus zu leben, was sie allerdings bald aufgeben mussten, da sie dem Alkohol nicht abschwören wollten oder konnten. Ist schon ein paar Monate her, aber man erinnert sich dessen hier noch gern und häufig. Besonders wegen lustiger Geschichten, wie als die Jungs mal Zucker mit Salz verwechselt haben und so einen „Kaffee-mortale“ trinken mussten. Ansonsten schnorren sie von mir gemeinsam die Zigaretten und wechseln immer ein paar Worte mit mir. Hin und wieder versucht Andrej aber wieder sein Recht auf das eigene Quartier geltend zu machen, welches ihm durch eine Art Räuberbande abgenommen wurde. Die Sache lief ungefähr so: Irgendjemand hatte ihn als allein lebend ausgemacht. Dann wurde ihm mit Gewalt sein Pass abgepresst und nun kann er ohne Dokumente den Besitzanspruch nicht geltend machen. Manchmal versucht er aber doch noch wieder in seine Wohnung zu kommen, um dort zu duschen oder sich aufzuwärmen, was meist damit endet, dass er dort eingesperrt wird, um noch etwas von ihm zu erpressen, bis sich jemand seiner erinnert, vorbeikommt und die Polizei holt, die ihn dann aus der Wohnung freibekommt, aber ihm sein Eigentum natürlich nicht wiedergeben kann. Da also die beiden an einigen Tagen nicht zusammen ankommen, habe ich mir also auch heute erstmal nichts dabei gedacht, als nur Jura am Wagon stand, als ich mit Ruslan zur Arbeit „geglitten“ kam (fieses Glatteis heute über Tag).
Dann aber kam alles anders. Um Jura herum bildete sich bald eine Traube von Leuten und leicht erregtem Gespräch. Als ich endlich erfuhr worum es ging, stockte mir der Atem. Natürlich wollte ich es nicht glauben, bis ich es dann auch noch mit eigenen Augen sah. Nur wenige Meter von dem Weg entfernt, auf dem Ruslan und ich fünf Minuten vorher angekommen waren lag Andrej: Stocksteif gefroren. Die Augen offen. Die Hände verkrampft vom leblosen Körper gestreckt. In seiner alten rot-grün-blauen Jacke, den schwarzen, vor Kälte starrenden Hosen, in denen das Wasser gefroren war, die löchrigen Schuhe ausgezogen vor sich. Verglichen mit dem gewöhnlichen Ausdruck seines Gesichts, dem schlotternden Unterkiefer, der Augenpartie, die ständig von Angstfalten dominiert wird und gleichzeitig um eine menschliche Kleinigkeit flehen, lag etwas Friedfertiges in seinem Antlitz an diesem Morgen. Erst gestern hatte ich ihn noch getroffen, als er zum Wagon kam, als schon längst alles ausgegeben war. Er bat mich um ein bisschen Geld oder eine Zigarette, was ich beides nicht dabei hatte. Wir verabschiedeten uns damit, dass wir uns ja „morgen sehen werden“. „Wir“ war aber morgens schon im „Gestern“ erstarrt.
Angesichts der routinierten Reaktionen der anderen Obdachlosen und der Caritasmitarbeiter hielt ich meine Trauer zurück und verdrängte sie mit dem Gedanken, dass er jetzt nichts mehr zu fürchten hat. Er hatte es wirklich hinter sich, wie man diese lächerliche Phrase immer nach einem langen Leiden so häufig in der Grabrede ins Feld führt. Ich holte alles Positive aus dem Aphorismus und verbrachte so den Rest des Vormittags, monoton Tee und Brötchen ausgebend. Denke ich nun darüber nach, muss ich sagen, dass ich mir gewünscht hätte, jemand hätte diese Phrase auch nur kurz und beiläufig ausgesprochen, damit sie den Abklatsch einer Grabrede erfüllt hätte. Aber eine Grabrede wird es nicht geben. Auch keine Beerdigung. Wenn er Pech hat, bleibt Andrejs Körper so liegen, bis irgendwann die Zerfallsprozesse das ihrige tun. Wenn er Glück hat, wird er verscharrt. Als Ruslan und ich weggingen, lag er zumindest immer noch da. Die Polizei hatte ihn begutachtet. Im schlechtesten Fall für Jura werden sie ihm ein Gewaltverbrechen daraus basteln und ihn einsperren. Ist aber wohl eher wenig wahrscheinlich. Der Mann war so „klar wie Wintereis“ erfroren. Das ist das Schicksal als Obdachloser im Wolgograder Winter: Du verendest und keiner weiß auch nur, dass du mal existiert hast. Die Welt dreht sich weiter. Und selbst die wenigen, die von dir wussten, mit denen du vielleicht ein kleines Stück oder einen längeren Abschnitt deines Weges gegangen bist, halten dich nicht in Ehren. Ihre eigene Existenz rennt ihnen durch die Finger und sie schinden sich jede Sekunde, sie zu retten, den kostbaren Sand der Zeit aufzufangen und jeder Gedanke ist darauf fokussiert. Da bleibt keine Zeit für Grabrede, Rosenkranz in der Leichenhalle oder Kaffee und Schnittchen nach der Beerdigung. Schon eine Träne herauszupressen ist ihnen in dieser lebensfeindlichen Kälte eher ein Akt der Selbstzerstörung.
Aber Hiob meint es heute besonders gut mit mir. Als ich wieder nach Hause kam, wurde mir direkt offenbart, dass Andrej wohl nicht der einzige Tote Obdachlose dieses Winters bleiben wird. Russland lässt dem sonst eher weichen Ei Jörg wohl keine andere Wahl als zur harten Nuss zu werden.

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