So, nun gibt es endlich auch Fotos aus dem "wilden Osten".
Anzusehen ueber www.studivz.net
Koennt ja mal gucken.
Marten, waere nett, wenn du mir nochmal sagst, wie ich das verlinke.
Montag, 26. November 2007
Samstag, 24. November 2007
Mein Geburtstag.
Wie habe ich meinen Geburtstag in Russland verlebt? Diese Frage stellten mir viele und meinten damit, wie der Tag, dessen Datum identisch mit dem ist, an dem ich vor zwanzig Jahren das Licht der Welt erblickt habe, sich gestaltet hat. Nun, darauf kann man leicht antworten. Ich bin morgens aufgestanden, habe mich geduscht, mir nette Klamotten angezogen und bin dann wieder nach unten gegangen, wo mir alle gratulierten. Dann habe ich mir Tee gemacht und mir ein paar Plätzchen reingeschoben. Wir sind danach direkt zur Arbeit gefahren, das heißt zum Caritaswagon und haben dort Suppe, Tee und Brot an die Obdachlosen ausgeteilt, wobei ich diesmal die Suppe übernommen habe, da Marco sich besonders um Einzelfälle kümmern musste, sodass er die weniger stressige Aufgabe des Teeeinschenkens übernommen hat. Nach der Speisung habe ich mich mit Miraella, die aus Astrachan zu uns hochgefahren ist, und einem Obdachlosen unterhalten. Nachdem einige von den Jungs dann spitzbekommen hatten, dass ich Geburtstag hatte, gab es auch von ihnen Gratulationen und von mir Zigaretten. Auf dem Weg zurück wählte ich dann das Abendessen (Pizza) aus. Zuhause angekommen bin ich dann direkt zum Supermarkt marschiert, um Bier, Cola und Chips einzukaufen. Zum Mittag waren wir dann (aufgrund einer Autopanne bei Marco und Jura) nur zu viert. Aber Miraella, Anatoli, Ruslan und ich haben es uns auch so schmecken lassen. Danach bin ich dann aufs Zimmer, habe trompetet und gelesen. Im Anschluss gab es eine Flut von Anrufen (primär aus Deutschland), das Abendessen, die Geschenkübergabe am Abend und noch mehr Anrufe.
Das war also mein Zwanzigster. Und er war es so nicht ganz. Denn diese Darstellung begrenzt ganz ungemein den Tag auf seine immanenten Ereignisse, was der Realität nicht wirklich nahe kommen kann. So muss ich erstmal hinzufügen, dass dieser wenig als solcher gefeierte Ehrentag trotzdem ein schöner war, auch wenn er auf den ersten Blick sehr nach Alltag aussieht. Das war er aber eigentlich gar nicht. So war das Geschenk (ein klassisch russischer Pullover) meiner – wie soll ich sagen – Mitbewohner sorgfältig ausgesucht und wir haben uns abends wirklich gut amüsiert. Es war hier wirklich kein wenig überschwänglich, aber gerade deswegen irgendwie angenehm. Und auch nicht „irgendwie“ angenehm, sondern authentisch angenehm. Es hat sich niemand gemeldet oder es ist niemand vorbeigekommen, der nur vom 30-Literbierfass einen Teil grabschen wollte und deswegen fünf Euro auf eine Tafel Schokolade gequetscht hat (oder hat quetschen lassen). Ich bin ja kein Freund des Schauspiels, welches sich nicht als solches „outet“. Oder, wenn man sowieso alles nur Spiel ist, was man auch annehmen dürfen muss, bin ich zumindest kein Freund des Schauspiels, was über das Unumgängliche hinausgeht. Aber genug davon. Ich habe die Einfachheit hier „einfach“ genossen.
Das zweite, was wichtig wäre zu erwähnen, ist, dass sich mein Geburtstag nicht auf die knapp bemessenen 24 Stunden des 19.11. erstreckte, sonder darüber hinaus noch bis in den Mittwoch hineinging. So gab es noch am Dienstag eine kleine Feier mit Saft, Torte und einem kleinen Präsent im Kinderzentrum. Dort hatten die Kinder ein Heftchen vorbereitet mit Glückwünschen, sowie zwei Fotos, die mich mit ihnen bei verschiedenen Tätigkeiten zeigen. Am Mittwoch gab es dann noch ein Extra-Geschenk von Sergej, mit dem ich hier immer die Französischhausaufgaben mache. Der hatte mir eine Karte, Konfekt und eine kleine Gipsmalerei gekauft und letztere selbst mit Farben verschönert. Die Karte haben wir danach gemeinsam auf Französisch übersetzt. Das kleine Bild, welches eine Schweinemama bei der Hausarbeit zeigt, bedeutet mir dabei unglaublich viel. Wie lange kenne ich diesen Jungen und in welche Unkosten stürzt er sich da schon? Und was für einen Aufwand er sich gemacht hat. Hätte ich ihn nicht beruhigt wäre er direkt den ganzen Tag unglücklich gewesen, weil auf der Gipsplatte am Rande zwei kleine Macken sind, über die er sich unglaublich erregen konnte. Mein Geburtstag war insofern also ein Ereignis, welches mir gezeigt hat, dass ich hier schon stark (ich bin schon versucht zu sagen „vollkommen“) integriert bin und gute Freunde gefunden habe, die sich genau so wie es ihnen angemessen scheint um mich sorgen und mit mir feiern. Aber auch das ist immer noch nicht alles.
Die Sache ist nämlich die, dass ich meinen Geburtstag nicht nur in Russland gefeiert habe, sondern in gewisser Weise auch in Deutschland. Schon alleine die vielen Anrufe, die Emails zeigen schließlich, dass auch hunderte Kilometer weit weg noch an mich gedacht wird und ich dort nicht vergessen wurde. Auch das hat mich riesig gefreut, aber ich wähle hier so öffentlich keine Worte, um das wirklich ausdrücken zu können, weil ich das nicht für den richtigen Ort halte.
Seit aber nun hierdurch auf jeden Fall versichert, dass es mir an meinem Geburtstag an nichts gefehlt hat, was ich für Geburtstagsfeeling als nötig befunden hätte. Im Gegenteil habe ich einen Geburtstag verlebt, der ganz nach meinem Geschmack war. Und er passt zu Russland.
Nächster Artikel. Dieser ist misslungen. Musste misslingen. Aber auch trotzdem geschrieben werden.
Das war also mein Zwanzigster. Und er war es so nicht ganz. Denn diese Darstellung begrenzt ganz ungemein den Tag auf seine immanenten Ereignisse, was der Realität nicht wirklich nahe kommen kann. So muss ich erstmal hinzufügen, dass dieser wenig als solcher gefeierte Ehrentag trotzdem ein schöner war, auch wenn er auf den ersten Blick sehr nach Alltag aussieht. Das war er aber eigentlich gar nicht. So war das Geschenk (ein klassisch russischer Pullover) meiner – wie soll ich sagen – Mitbewohner sorgfältig ausgesucht und wir haben uns abends wirklich gut amüsiert. Es war hier wirklich kein wenig überschwänglich, aber gerade deswegen irgendwie angenehm. Und auch nicht „irgendwie“ angenehm, sondern authentisch angenehm. Es hat sich niemand gemeldet oder es ist niemand vorbeigekommen, der nur vom 30-Literbierfass einen Teil grabschen wollte und deswegen fünf Euro auf eine Tafel Schokolade gequetscht hat (oder hat quetschen lassen). Ich bin ja kein Freund des Schauspiels, welches sich nicht als solches „outet“. Oder, wenn man sowieso alles nur Spiel ist, was man auch annehmen dürfen muss, bin ich zumindest kein Freund des Schauspiels, was über das Unumgängliche hinausgeht. Aber genug davon. Ich habe die Einfachheit hier „einfach“ genossen.
Das zweite, was wichtig wäre zu erwähnen, ist, dass sich mein Geburtstag nicht auf die knapp bemessenen 24 Stunden des 19.11. erstreckte, sonder darüber hinaus noch bis in den Mittwoch hineinging. So gab es noch am Dienstag eine kleine Feier mit Saft, Torte und einem kleinen Präsent im Kinderzentrum. Dort hatten die Kinder ein Heftchen vorbereitet mit Glückwünschen, sowie zwei Fotos, die mich mit ihnen bei verschiedenen Tätigkeiten zeigen. Am Mittwoch gab es dann noch ein Extra-Geschenk von Sergej, mit dem ich hier immer die Französischhausaufgaben mache. Der hatte mir eine Karte, Konfekt und eine kleine Gipsmalerei gekauft und letztere selbst mit Farben verschönert. Die Karte haben wir danach gemeinsam auf Französisch übersetzt. Das kleine Bild, welches eine Schweinemama bei der Hausarbeit zeigt, bedeutet mir dabei unglaublich viel. Wie lange kenne ich diesen Jungen und in welche Unkosten stürzt er sich da schon? Und was für einen Aufwand er sich gemacht hat. Hätte ich ihn nicht beruhigt wäre er direkt den ganzen Tag unglücklich gewesen, weil auf der Gipsplatte am Rande zwei kleine Macken sind, über die er sich unglaublich erregen konnte. Mein Geburtstag war insofern also ein Ereignis, welches mir gezeigt hat, dass ich hier schon stark (ich bin schon versucht zu sagen „vollkommen“) integriert bin und gute Freunde gefunden habe, die sich genau so wie es ihnen angemessen scheint um mich sorgen und mit mir feiern. Aber auch das ist immer noch nicht alles.
Die Sache ist nämlich die, dass ich meinen Geburtstag nicht nur in Russland gefeiert habe, sondern in gewisser Weise auch in Deutschland. Schon alleine die vielen Anrufe, die Emails zeigen schließlich, dass auch hunderte Kilometer weit weg noch an mich gedacht wird und ich dort nicht vergessen wurde. Auch das hat mich riesig gefreut, aber ich wähle hier so öffentlich keine Worte, um das wirklich ausdrücken zu können, weil ich das nicht für den richtigen Ort halte.
Seit aber nun hierdurch auf jeden Fall versichert, dass es mir an meinem Geburtstag an nichts gefehlt hat, was ich für Geburtstagsfeeling als nötig befunden hätte. Im Gegenteil habe ich einen Geburtstag verlebt, der ganz nach meinem Geschmack war. Und er passt zu Russland.
Nächster Artikel. Dieser ist misslungen. Musste misslingen. Aber auch trotzdem geschrieben werden.
Sonntag, 18. November 2007
Endlich Russe
Heute habe ich es geschafft! Ich bin endlich Russe geworden. Das heißt, ich besitze nun ein Papier auf dem das steht. Oder zumindest etwas Ähnliches, was ich so ganz genau auch nicht verstehe. Im Grunde ist es auch nur ein Nachweis, dass ich die Sprache beherrsche. Oder auch nur ein Zertifikat, das die höchst erfolgreiche (mit „5“ abgeschlossen, das ist das Maximum hier) Teilnahme an 64 Stunden Russischunterricht an der Uni bescheinigt.
Wenn man das alles so genau nimmt, vergeht der Zauber dieses Papiers auch im Nu. Aber davon will ich mich nicht beeindrucken lassen. Von den Leuten hier im Haus habe ich dafür schon Annerkennung bekommen. Soll heißen, dass sogar Jura nichts Abfälliges von sich gegeben hat, als ich ihm den Zettel unter die Nase hielt. Das hat mir echt Mut gemacht. Seine rausgelullte Frage, die dem folgte habe ich natürlich direkt wieder nicht verstanden, was wieder Balsam für die Seele des Realisten und Salz in die Wunde des Glücklichen war. Nachdem er dann noch mal deutlich wiederholt hatte was er wollte, konnte ich dann aber doch folgen und ihm antworten, dass das Blättchen mir momentan wirklich nichts nützt, aber eventuell später mal von Bedeutung sein könnte, bla, bla, bla.
Ach ja, zu Jura könnte man hier allein einen ganzen Roman und zwei Bildergalerien reinstellen. Die Bildergalerien besitze ich (zumindest zum Teil) schon hier, auf dem Computer, während der Roman nur in meinem Kopf schwirrt und einen Teil dessen versuche ich diesem mal zu entlocken, um wieder Futter für alle Lesebegierigen in den großen Trog „Internet“ zu füllen.
Sicher werden sich einige schon gefragt haben was das überhaupt für ein komischer Typ sein muss, der dreißig Jahre seines Lebens im Knast verbracht hat. Da kann ich natürlich nur zustimmen, denn alles andere wäre nur eine dämliche Romantisierung eines stieseligen, alten Mannes, was mir, Novalis sei Dank, fern liegt.
Zuerst mal zu seinem Äußeren: Ich kann mich im Moment nicht erinnern, ob ich schon von der riesigen Kreml-Tätowierung auf seiner Brust geschrieben habe und bin auch zu faul um nachzusehen, deswegen erwähne ich dieses „Markenzeichen“ schon mal im voraus, denn es ist wirklich das, was einem ins Auge springt, wenn man den guten Mann im Sommer das erste Mal „oben ohne“ kennen lernt. An sich ist Jura von kompakter Gestalt. Eher klein gehalten, ein wenig gedrungen, eher ein bisschen zu viel auf den Rippen, was zum großen Teil aber auch Muskelmasse ist, was man hin und wieder mal schmerzlich zu spüren bekommen kann. Den Kopf zieren zirka 73 Haare (ich bin durch das Maschrutkafahren zu einem wahren Zahlengenie geworden, weswegen erzähle ich später) oder, einfach ausgedrückt, ein kleiner Kranz um den Kopf, ein weißer Heiligenschein, den er sich ständig kurz rasieren lässt. Den Bart rasiert er sich nicht gerade regelmäßig, aber so, dass er meist ansehnlich ist. Der Kopf ist im Großen und Ganzen eine Bowlingkugel, die er auch ohne weiteres hin und wieder als Abrissbirne verwenden kann (Achtung: Kopfstoß, Herr Zidane!). Die Augen sind meist eh schon kleine Schlitze in einer Mondlandschaft aus Leder, die von seinem Gesicht übrig geblieben ist. Wenn das Bärchen aber maulig wird, können diese kleinen Schlitze immer noch weiter zu Schießscharten böser Blicke werden.. Den sibirischen Bären komplettieren ein (weil zahnloser) eingefallener Mund und seine Klamotten, die aus uralten Strickpullis (manchmal auch mit Kapuze) und Jogginghosen bestehen.
Wichtig ist bei Jura, dass man nie und ich wiederhole „NIE!“ davon ausgehen sollte, dass er gerade ausgelassen sei. Egal wie schön der Tag ist oder wie lange man für sein Abendessen am Herd stand, wie lange man das Haus aufgeräumt hat, wie viel man irgendwo geschuftet hat oder was man sonst so verbracht haben mag, was einem Gutes oder überwundenes Schlechtes widerfahren ist: es ist ihm (im besten Falle) scheißegal. So hat Sascha heute ein neues Auto für sich gekauft: Seinen ersten Wagen. Wir (das sind Marco, Sascha und ich) haben das natürlich gleich mit einem Bierchen und Zigaretten in der Kurilka eingeweiht. Jura hat nur sein Bier genommen und dann nichts mehr gesagt, bis sich das Thema änderte. Als Marco und ich letztens Hühnchen in Pilzsoße zubereitet haben (und das hat lange gedauert im Vergleich zu einer Packung Pjelmini(russische Spezialität, sieht aus wie weiße Tortellini, der Teig ist aber ein anderer und die Füllung ist nur auf Fleisch beschränkt. Was der Unterschied zwischen russischen und sibirischen Pjelmini sein soll habe ich noch nicht begriffen)), kam Jura zum Tisch, aß die Hälfte, nahm sich dann eine Schnitte Brot, sagte, es würde ihm nicht sonderlich schmecken und ging wieder. Als es im Sommer herrlich warm war (nachdem für ein paar Tage schon ein bisschen Kälte eingekehrt war, also quasi Altweibersommer) bemerkte ich einmal, nur um ein Gespräch zu führen, was für ein schönes Wetter wir doch hätten (ich bin selbst kein Freund von Wettergesprächen, wenn man aber nicht viel anderes sagen kann, muss einem das, der Kommunikation zur Liebe, verziehen werden). Was für ein Unwetter da aufzog! Sofort wurden die Schießscharten bereitgemacht, ein Aufklärungsblick wurde in meine Richtung gesandt. Dann: Feuer frei! „Ein Scheißwetter haben wir! Bei der blöden Sonne gehen uns doch alle Blumen ein! Und wir schwitzen uns hier sonst was zusammen...“
Und das sind noch die besseren Zusammentreffen mit Jura. Die meiste Zeit über verstehe ich nämlich überhaupt gar nichts von dem was er mir so erzählt. „Erzählt“ ist auch wieder nicht das richtige Wort. Eigentlich brüllt er mich fast an, da er wohl meint, dass ich dann besser verstünde was er will. Nur greift in dem Moment für mich das eher nicht-sprachliche Element eines lauten Schalls, was mich in eine eher Abwehrposition drängt, als dass ich genauer zuhören würde und könnte was der nette Alte denn von mir will. Der Probleme sind nämlich gleich zwei. Zum einen lispelt Jura durch sein „modifiziertes“ Mundwerk ungemein und spricht meist sowieso schon unverständlich. Dazu – und das ist gravierender – kommt dann meist noch der Slang. Und was für einer! Ich hatte schon fast vergessen, dass man sich komplett außerhalb jeglicher Wörterbuchvokabeln unterhalten kann. Und das tut er gern.
So kann man sagen, dass es meist nicht einfach ist mir Jura zusammen zu leben. Warum mache ich das aber trotzdem gern? Zum einen, weil ich weiß, dass er eigentlich ein netter Kerl ist, aber das ist Weltanschauung, meine religiöse Überzeugung und für viele eine so hohle Floskel, dass man mich allein dafür in die Tonne kloppen dürfte. Aber es gibt ja noch einen anderen Grund. Wenn dir so ein Stinkstiefel nämlich erlaubt mit ihm zusammen zu kochen (und sei es auch nur neben ihm zu stehen und zuzuhören und zuzusehen) oder dich eine einzige Schraube bei der Reparatur eines Stuhles andrehen lässt (nachdem du ihm zehnmal damit auf den Sack gegangen bist, dass du deine Hilfe anbietest) oder (und ich gebe zu, dass dieses Beispiel schon paradox scheint) dir mal mit voller Wucht (aber auch in voller Freundschaft) gegen den Oberschenkel boxt, verstehst du, dass er dich doch auch gern hat. Das zeigt er nur selten, aber er tut es. Mittlerweile zu einem Running-Gag für mich (wie er das genau sieht weiß ich nicht) haben sich gewisse Situationen in der Kurilka entwickelt. Ich sitze drinnen und rauche vielleicht gerade meine vierte Zigarette am Tag, während von seinen schon etwa zehn im Aschenbecher liegen (und vielleicht noch genau so viele draußen im Garten). Und dann kommt der Auftritt: „Ты куришь и куришь...“ („Du rauchst und rauchst…“), was von einem vehementen Schütteln der großen Bowlingkugel begleitet wird. Darauf grinse ich und zwinkere ihm zu. „Иди на хуй, блядь!“ (Ist sicherlich auch nicht ganz richtig geschrieben, vielleicht gibt es auch genau so wenig eine Schreib- wie eine adäquate Übersetzungsweise, ich übersetze mal am wenigsten krass mit: „Ach, bleib mir doch gestohlen, Alter!“ (eig: „Geh zum Schwanz (oder ein anderes obszönes Wort für Penis)“ – das letzte Wort lässt sich einfach gar nicht übersetzen) murmelt er dann vor sich hin und geht wieder raus, um draußen entweder die Tauben zu füttern oder irgendetwas zu bauen.
Sein „ein und alles“ ist im Übrigen der Köter, Muktar. Er hat ihn sogar als Hintergrundbildchen auf seinem neuen Handy. Man stelle sich den alten Bären mit seiner umgedrehten Mütze, seinem Pulli mit Kapuze und einem modernen „Klapphandy“ vor – zu geil. Könnte direkt aus der Bronx kommen. Ein bisschen zerfurcht, sogar für einen „Gangsta“, aber sonst ganz cool.
Ich zieh mir noch einen Film rein und gehe dann schlafen.
Gute Nacht.
Wenn man das alles so genau nimmt, vergeht der Zauber dieses Papiers auch im Nu. Aber davon will ich mich nicht beeindrucken lassen. Von den Leuten hier im Haus habe ich dafür schon Annerkennung bekommen. Soll heißen, dass sogar Jura nichts Abfälliges von sich gegeben hat, als ich ihm den Zettel unter die Nase hielt. Das hat mir echt Mut gemacht. Seine rausgelullte Frage, die dem folgte habe ich natürlich direkt wieder nicht verstanden, was wieder Balsam für die Seele des Realisten und Salz in die Wunde des Glücklichen war. Nachdem er dann noch mal deutlich wiederholt hatte was er wollte, konnte ich dann aber doch folgen und ihm antworten, dass das Blättchen mir momentan wirklich nichts nützt, aber eventuell später mal von Bedeutung sein könnte, bla, bla, bla.
Ach ja, zu Jura könnte man hier allein einen ganzen Roman und zwei Bildergalerien reinstellen. Die Bildergalerien besitze ich (zumindest zum Teil) schon hier, auf dem Computer, während der Roman nur in meinem Kopf schwirrt und einen Teil dessen versuche ich diesem mal zu entlocken, um wieder Futter für alle Lesebegierigen in den großen Trog „Internet“ zu füllen.
Sicher werden sich einige schon gefragt haben was das überhaupt für ein komischer Typ sein muss, der dreißig Jahre seines Lebens im Knast verbracht hat. Da kann ich natürlich nur zustimmen, denn alles andere wäre nur eine dämliche Romantisierung eines stieseligen, alten Mannes, was mir, Novalis sei Dank, fern liegt.
Zuerst mal zu seinem Äußeren: Ich kann mich im Moment nicht erinnern, ob ich schon von der riesigen Kreml-Tätowierung auf seiner Brust geschrieben habe und bin auch zu faul um nachzusehen, deswegen erwähne ich dieses „Markenzeichen“ schon mal im voraus, denn es ist wirklich das, was einem ins Auge springt, wenn man den guten Mann im Sommer das erste Mal „oben ohne“ kennen lernt. An sich ist Jura von kompakter Gestalt. Eher klein gehalten, ein wenig gedrungen, eher ein bisschen zu viel auf den Rippen, was zum großen Teil aber auch Muskelmasse ist, was man hin und wieder mal schmerzlich zu spüren bekommen kann. Den Kopf zieren zirka 73 Haare (ich bin durch das Maschrutkafahren zu einem wahren Zahlengenie geworden, weswegen erzähle ich später) oder, einfach ausgedrückt, ein kleiner Kranz um den Kopf, ein weißer Heiligenschein, den er sich ständig kurz rasieren lässt. Den Bart rasiert er sich nicht gerade regelmäßig, aber so, dass er meist ansehnlich ist. Der Kopf ist im Großen und Ganzen eine Bowlingkugel, die er auch ohne weiteres hin und wieder als Abrissbirne verwenden kann (Achtung: Kopfstoß, Herr Zidane!). Die Augen sind meist eh schon kleine Schlitze in einer Mondlandschaft aus Leder, die von seinem Gesicht übrig geblieben ist. Wenn das Bärchen aber maulig wird, können diese kleinen Schlitze immer noch weiter zu Schießscharten böser Blicke werden.. Den sibirischen Bären komplettieren ein (weil zahnloser) eingefallener Mund und seine Klamotten, die aus uralten Strickpullis (manchmal auch mit Kapuze) und Jogginghosen bestehen.
Wichtig ist bei Jura, dass man nie und ich wiederhole „NIE!“ davon ausgehen sollte, dass er gerade ausgelassen sei. Egal wie schön der Tag ist oder wie lange man für sein Abendessen am Herd stand, wie lange man das Haus aufgeräumt hat, wie viel man irgendwo geschuftet hat oder was man sonst so verbracht haben mag, was einem Gutes oder überwundenes Schlechtes widerfahren ist: es ist ihm (im besten Falle) scheißegal. So hat Sascha heute ein neues Auto für sich gekauft: Seinen ersten Wagen. Wir (das sind Marco, Sascha und ich) haben das natürlich gleich mit einem Bierchen und Zigaretten in der Kurilka eingeweiht. Jura hat nur sein Bier genommen und dann nichts mehr gesagt, bis sich das Thema änderte. Als Marco und ich letztens Hühnchen in Pilzsoße zubereitet haben (und das hat lange gedauert im Vergleich zu einer Packung Pjelmini(russische Spezialität, sieht aus wie weiße Tortellini, der Teig ist aber ein anderer und die Füllung ist nur auf Fleisch beschränkt. Was der Unterschied zwischen russischen und sibirischen Pjelmini sein soll habe ich noch nicht begriffen)), kam Jura zum Tisch, aß die Hälfte, nahm sich dann eine Schnitte Brot, sagte, es würde ihm nicht sonderlich schmecken und ging wieder. Als es im Sommer herrlich warm war (nachdem für ein paar Tage schon ein bisschen Kälte eingekehrt war, also quasi Altweibersommer) bemerkte ich einmal, nur um ein Gespräch zu führen, was für ein schönes Wetter wir doch hätten (ich bin selbst kein Freund von Wettergesprächen, wenn man aber nicht viel anderes sagen kann, muss einem das, der Kommunikation zur Liebe, verziehen werden). Was für ein Unwetter da aufzog! Sofort wurden die Schießscharten bereitgemacht, ein Aufklärungsblick wurde in meine Richtung gesandt. Dann: Feuer frei! „Ein Scheißwetter haben wir! Bei der blöden Sonne gehen uns doch alle Blumen ein! Und wir schwitzen uns hier sonst was zusammen...“
Und das sind noch die besseren Zusammentreffen mit Jura. Die meiste Zeit über verstehe ich nämlich überhaupt gar nichts von dem was er mir so erzählt. „Erzählt“ ist auch wieder nicht das richtige Wort. Eigentlich brüllt er mich fast an, da er wohl meint, dass ich dann besser verstünde was er will. Nur greift in dem Moment für mich das eher nicht-sprachliche Element eines lauten Schalls, was mich in eine eher Abwehrposition drängt, als dass ich genauer zuhören würde und könnte was der nette Alte denn von mir will. Der Probleme sind nämlich gleich zwei. Zum einen lispelt Jura durch sein „modifiziertes“ Mundwerk ungemein und spricht meist sowieso schon unverständlich. Dazu – und das ist gravierender – kommt dann meist noch der Slang. Und was für einer! Ich hatte schon fast vergessen, dass man sich komplett außerhalb jeglicher Wörterbuchvokabeln unterhalten kann. Und das tut er gern.
So kann man sagen, dass es meist nicht einfach ist mir Jura zusammen zu leben. Warum mache ich das aber trotzdem gern? Zum einen, weil ich weiß, dass er eigentlich ein netter Kerl ist, aber das ist Weltanschauung, meine religiöse Überzeugung und für viele eine so hohle Floskel, dass man mich allein dafür in die Tonne kloppen dürfte. Aber es gibt ja noch einen anderen Grund. Wenn dir so ein Stinkstiefel nämlich erlaubt mit ihm zusammen zu kochen (und sei es auch nur neben ihm zu stehen und zuzuhören und zuzusehen) oder dich eine einzige Schraube bei der Reparatur eines Stuhles andrehen lässt (nachdem du ihm zehnmal damit auf den Sack gegangen bist, dass du deine Hilfe anbietest) oder (und ich gebe zu, dass dieses Beispiel schon paradox scheint) dir mal mit voller Wucht (aber auch in voller Freundschaft) gegen den Oberschenkel boxt, verstehst du, dass er dich doch auch gern hat. Das zeigt er nur selten, aber er tut es. Mittlerweile zu einem Running-Gag für mich (wie er das genau sieht weiß ich nicht) haben sich gewisse Situationen in der Kurilka entwickelt. Ich sitze drinnen und rauche vielleicht gerade meine vierte Zigarette am Tag, während von seinen schon etwa zehn im Aschenbecher liegen (und vielleicht noch genau so viele draußen im Garten). Und dann kommt der Auftritt: „Ты куришь и куришь...“ („Du rauchst und rauchst…“), was von einem vehementen Schütteln der großen Bowlingkugel begleitet wird. Darauf grinse ich und zwinkere ihm zu. „Иди на хуй, блядь!“ (Ist sicherlich auch nicht ganz richtig geschrieben, vielleicht gibt es auch genau so wenig eine Schreib- wie eine adäquate Übersetzungsweise, ich übersetze mal am wenigsten krass mit: „Ach, bleib mir doch gestohlen, Alter!“ (eig: „Geh zum Schwanz (oder ein anderes obszönes Wort für Penis)“ – das letzte Wort lässt sich einfach gar nicht übersetzen) murmelt er dann vor sich hin und geht wieder raus, um draußen entweder die Tauben zu füttern oder irgendetwas zu bauen.
Sein „ein und alles“ ist im Übrigen der Köter, Muktar. Er hat ihn sogar als Hintergrundbildchen auf seinem neuen Handy. Man stelle sich den alten Bären mit seiner umgedrehten Mütze, seinem Pulli mit Kapuze und einem modernen „Klapphandy“ vor – zu geil. Könnte direkt aus der Bronx kommen. Ein bisschen zerfurcht, sogar für einen „Gangsta“, aber sonst ganz cool.
Ich zieh mir noch einen Film rein und gehe dann schlafen.
Gute Nacht.
Kamyschyn – eine Reise in den Solipsismus
Da hatte ich es also doch nicht abwenden können. Morgens hallte es mir noch im Kopf wider: Du willst eigentlich gar nicht dahin. Mittags dann mit gepackten Sachen in die Maschrutka. Schneller Abschied von Sascha, Marco, Jura und Ruslan. Erstmal eine Betäubung: Led Zeppelin ins Ohr und nach dem Päckchen Camel in der Jackentasche fühlen – ich bin gerüstet. Was war eigentlich los?
Schon seit Wochen musste ich mich mit dem Gedanken herumschlagen an diesem Freitag nach Kamyschyn zu fahren. Ein Kaff mit einigen tausend Einwohnern irgendwo südlich in der Nähe der Wolga. Dort sollte ein katholischer Jugendtreff mit Studenten aus Wolgograd stattfinden. Gleich zu Anfang gingen bei mir schon die Alarmglocken. Singen, kreativ sein, seine Gefühle mitteilen, wenig schlafen, kein Alkohol. Eigentlich ist das alles kein Problem. Man muss das ganze nur ironisch mit der richtigen Clique aufnehmen können. Aber da formierte es sich ja schon, das Problem. Diese Gruppe war ja diesmal gar nicht mit von der Partie. Vielmehr reiste ich ja mit ca. 20 wenig bekannten Studenten und Jugendlichen aus der Gemeinde, die mir bisher nur dadurch aufgefallen waren, dass sie in der Kirche alle unglaublich motiviert zu Werke gingen und ständig die Miene des Unschuldslammes aufsetzten, die Schultern unter der Last der Welt gekrümmt – alles in allem auf den Hintergrund ihres außerkirchlichen Lebens projiziert nette Karikaturen unsympathischer Heuchler, die sich selbst aber auf gar keinen Fall als solche wahrnehmen. So hatte ich schon seitdem ich davon wusste, dass man mich unbedingt auch auf diesem Treffen dabei haben wollte, Bauchschmerzen, auf die ich Marco auch bereits häufig schon aufmerksam gemacht hatte. Der sollte zunächst auch nach Kamyschyn fahren, konnte aber letztlich aus guten Gründen, die unseren Hausfrieden hier bedrohten doch noch absagen. Schließlich kam dann noch der Tod seines Ordensgründers und Mentors dazu, der ihn dazu bewog nach Italien zu fliegen.
Dies eröffnete für mich natürlich eine neue Möglichkeit. Wenn ich es so hinstellen könnte, dass ich in seiner Abwesenheit der Verantwortliche im Haus wäre, hätte ich daraus eine nette Entschuldigung für mein Fernbleiben stricken können. Frohen Mutes bot ich mich also Marco an, zuhause zu bleiben. Der aber konnte oder wollte den Wink nicht verstehen und versicherte mir, ich könne ruhig fahren. So machte ich erstmal gute Mine zum bösen Spiel.
Es war ja auch nicht so, dass ich meine bösen Vermutungen nicht selber am liebsten widerlegt hätte und es schien wenige Minuten nach unserer Abreise auch der allergrößte Blödsinn gewesen zu sein – die Leute schienen nett, man konnte sich auf Englisch unterhalten, sie sahen im Fernsehen die gleichen Programme wie ich und unsere Wellen schienen einige Schnittpunkte zu haben. Dann aber kam nach etwa einer Stunde Busfahrt der Tiefpunkt der Tagesparabel: Das Gespräch wurde auf den Glauben gelenkt und ging mir prompt auf den Sack. Mir präsentierte sich ein egozentriertes Erkenntnisvermögen, dass ich direkt hätte kotzen können. „Gott als alter Mann mit einem kleinen Büchlein auf einem kleinen Tischchen im Himmel, in das er mit einem Kuli die guten und schlechten Taten einträgt, um dann am Ende eines jeden Lebens die große Aufwertung zu starten, simpel zu addieren und dann aus den drei Toren „Himmel“, „Fegefeuer“ und „Hölle“ auszuwählen. Der Mensch lebt also, um am Ende nicht den „Zonk“ ziehen zu müssen.“ – das wäre so ziemlich die im Raum abgestandene Quintessenz dessen, was mir so als zentraler Glaubensinhalt präsentiert wurde. Gut, dass mich ungern übergebe. Ich habe dann geschlafen, ohne zu antworten. Ich will gar nicht sagen, dass alle so dachten und dass es dort in dem großen Hinterweltlerkaff gar keine normalen Menschen gab, sodass ich tags in Versuchung gekommen wäre mit einer Laterne durch die Gegend zu laufen, aber drei oder vier von zwanzig sind für mich einfach nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Vielleicht bin ich – um nun auch mal ein Kompliment loszuwerden – einfach durch euch daran gewöhnt nette, intelligente und offene Menschen um mich zu haben. Nun ja, die Tage habe ich dann also primär mit beten verbracht. Ich sage „verbracht“ und nicht „vertan“! Nur die Zeit, die sich in Gruppenarbeit ergoss habe ich wirklich vertan, da dort wieder versteckt dieser Glaube der „Hinterweltler“ auftauchte, den ich dann schnell wieder versucht habe zu verdrängen. Am Ende dieser drei Tage war ich dann so angefüllt vom ewigen Transzendieren, dass mir beinahe schon die Kippen ausgegangen wären. Ich gehe nun weiter nicht auf die Inhalte des Treffens ein – es ging im Weitesten darum Ruhe für sich selbst zu finden, was ich durchaus ganz gut fand, aber was ich sonst so getan und gedacht habe ist dann doch entweder zu persönlich oder zu langweilig, um es hier niederzuschreiben. Meist letzteres. Ein wahres Highlight der Fahrt war dann noch der Weg zurück: Wir saßen in einer etwas größeren Maschrutka, ein geräumiger Autobus, der von uns schon fast komplett ausgefüllt wurde. Jörg hatte zu diesem Zeitpunkt natürlich schon beschlossen sich nun, da die Konsequenzen nicht mehr furchtbar werden konnten, abzukapseln und steckte sich seine Ohrhörer rein. Herrlich: „Slayer“ – „South of Heaven“. Lyrics, die vor allem nicht vortäuschen intelligent zu sein und echte Gitarren und echte Doublebase. Aber ihr kennt den Sound ja. Nun stellt euch vor, dass gerade an der Stelle, in der mit aller männlicher Brutalität „Before you see the light / you must die!“ herausgeblökt wird, eine Akustikklampfe einsteigt und ein glockenheller Frauensopran „Preiset den Herrn“ anstimmt. Wer sollte da nicht den Glauben an die Menschheit verlieren? Überhaupt: Ich konnte – das hat mich natürlich am meisten geärgert – noch nicht einmal irgendetwas dagegen unternehmen. Hat schon einmal jemand versucht einen neokatholischen Haufen Jugendlicher zu stoppen? Nein und ich auch nicht. Die waren schließlich gerade voll gepumpt mit jeder Menge „positiver Energie“ und die mussten sie erstmal zu Dreiakkordmusik langsam abbauen. Meine Antwort: „Tool“. Nützt aber auch nichts. Wenn mir die Ohren nicht hätten abfallen sollen, konnte ich die Musik einfach nicht noch lauter drehen. So fügte ich mich also in mein Schicksal zwischen ach-so-lieben Menschen und resignierte geistig völlig. Ich frage mich welcher Gattung Freak wohl der Fahrer angehörte, der den „Gesang“ auch noch die ganze Zeit billigte. Geschenkt. Wahrscheinlich sind Russen da immun.
Irgendwann, gegen 18:00 Uhr sind wir dann ja auch in Wolgograd angekommen und ich konnte mich allein auf den Nachhauseweg machen. Das war echt super.
Von der Überdosis, die ich damals bekommen habe, konnte ich bisher aber immer noch nicht erholen. Ich war erst einmal wieder zur Kirche danach. Da blüht mir noch ein Kreuzverhör bei der nächsten Beichte.
Ich denke, ich muss lernen „nein“ zu sagen.
Nächster Bericht.
Schon seit Wochen musste ich mich mit dem Gedanken herumschlagen an diesem Freitag nach Kamyschyn zu fahren. Ein Kaff mit einigen tausend Einwohnern irgendwo südlich in der Nähe der Wolga. Dort sollte ein katholischer Jugendtreff mit Studenten aus Wolgograd stattfinden. Gleich zu Anfang gingen bei mir schon die Alarmglocken. Singen, kreativ sein, seine Gefühle mitteilen, wenig schlafen, kein Alkohol. Eigentlich ist das alles kein Problem. Man muss das ganze nur ironisch mit der richtigen Clique aufnehmen können. Aber da formierte es sich ja schon, das Problem. Diese Gruppe war ja diesmal gar nicht mit von der Partie. Vielmehr reiste ich ja mit ca. 20 wenig bekannten Studenten und Jugendlichen aus der Gemeinde, die mir bisher nur dadurch aufgefallen waren, dass sie in der Kirche alle unglaublich motiviert zu Werke gingen und ständig die Miene des Unschuldslammes aufsetzten, die Schultern unter der Last der Welt gekrümmt – alles in allem auf den Hintergrund ihres außerkirchlichen Lebens projiziert nette Karikaturen unsympathischer Heuchler, die sich selbst aber auf gar keinen Fall als solche wahrnehmen. So hatte ich schon seitdem ich davon wusste, dass man mich unbedingt auch auf diesem Treffen dabei haben wollte, Bauchschmerzen, auf die ich Marco auch bereits häufig schon aufmerksam gemacht hatte. Der sollte zunächst auch nach Kamyschyn fahren, konnte aber letztlich aus guten Gründen, die unseren Hausfrieden hier bedrohten doch noch absagen. Schließlich kam dann noch der Tod seines Ordensgründers und Mentors dazu, der ihn dazu bewog nach Italien zu fliegen.
Dies eröffnete für mich natürlich eine neue Möglichkeit. Wenn ich es so hinstellen könnte, dass ich in seiner Abwesenheit der Verantwortliche im Haus wäre, hätte ich daraus eine nette Entschuldigung für mein Fernbleiben stricken können. Frohen Mutes bot ich mich also Marco an, zuhause zu bleiben. Der aber konnte oder wollte den Wink nicht verstehen und versicherte mir, ich könne ruhig fahren. So machte ich erstmal gute Mine zum bösen Spiel.
Es war ja auch nicht so, dass ich meine bösen Vermutungen nicht selber am liebsten widerlegt hätte und es schien wenige Minuten nach unserer Abreise auch der allergrößte Blödsinn gewesen zu sein – die Leute schienen nett, man konnte sich auf Englisch unterhalten, sie sahen im Fernsehen die gleichen Programme wie ich und unsere Wellen schienen einige Schnittpunkte zu haben. Dann aber kam nach etwa einer Stunde Busfahrt der Tiefpunkt der Tagesparabel: Das Gespräch wurde auf den Glauben gelenkt und ging mir prompt auf den Sack. Mir präsentierte sich ein egozentriertes Erkenntnisvermögen, dass ich direkt hätte kotzen können. „Gott als alter Mann mit einem kleinen Büchlein auf einem kleinen Tischchen im Himmel, in das er mit einem Kuli die guten und schlechten Taten einträgt, um dann am Ende eines jeden Lebens die große Aufwertung zu starten, simpel zu addieren und dann aus den drei Toren „Himmel“, „Fegefeuer“ und „Hölle“ auszuwählen. Der Mensch lebt also, um am Ende nicht den „Zonk“ ziehen zu müssen.“ – das wäre so ziemlich die im Raum abgestandene Quintessenz dessen, was mir so als zentraler Glaubensinhalt präsentiert wurde. Gut, dass mich ungern übergebe. Ich habe dann geschlafen, ohne zu antworten. Ich will gar nicht sagen, dass alle so dachten und dass es dort in dem großen Hinterweltlerkaff gar keine normalen Menschen gab, sodass ich tags in Versuchung gekommen wäre mit einer Laterne durch die Gegend zu laufen, aber drei oder vier von zwanzig sind für mich einfach nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Vielleicht bin ich – um nun auch mal ein Kompliment loszuwerden – einfach durch euch daran gewöhnt nette, intelligente und offene Menschen um mich zu haben. Nun ja, die Tage habe ich dann also primär mit beten verbracht. Ich sage „verbracht“ und nicht „vertan“! Nur die Zeit, die sich in Gruppenarbeit ergoss habe ich wirklich vertan, da dort wieder versteckt dieser Glaube der „Hinterweltler“ auftauchte, den ich dann schnell wieder versucht habe zu verdrängen. Am Ende dieser drei Tage war ich dann so angefüllt vom ewigen Transzendieren, dass mir beinahe schon die Kippen ausgegangen wären. Ich gehe nun weiter nicht auf die Inhalte des Treffens ein – es ging im Weitesten darum Ruhe für sich selbst zu finden, was ich durchaus ganz gut fand, aber was ich sonst so getan und gedacht habe ist dann doch entweder zu persönlich oder zu langweilig, um es hier niederzuschreiben. Meist letzteres. Ein wahres Highlight der Fahrt war dann noch der Weg zurück: Wir saßen in einer etwas größeren Maschrutka, ein geräumiger Autobus, der von uns schon fast komplett ausgefüllt wurde. Jörg hatte zu diesem Zeitpunkt natürlich schon beschlossen sich nun, da die Konsequenzen nicht mehr furchtbar werden konnten, abzukapseln und steckte sich seine Ohrhörer rein. Herrlich: „Slayer“ – „South of Heaven“. Lyrics, die vor allem nicht vortäuschen intelligent zu sein und echte Gitarren und echte Doublebase. Aber ihr kennt den Sound ja. Nun stellt euch vor, dass gerade an der Stelle, in der mit aller männlicher Brutalität „Before you see the light / you must die!“ herausgeblökt wird, eine Akustikklampfe einsteigt und ein glockenheller Frauensopran „Preiset den Herrn“ anstimmt. Wer sollte da nicht den Glauben an die Menschheit verlieren? Überhaupt: Ich konnte – das hat mich natürlich am meisten geärgert – noch nicht einmal irgendetwas dagegen unternehmen. Hat schon einmal jemand versucht einen neokatholischen Haufen Jugendlicher zu stoppen? Nein und ich auch nicht. Die waren schließlich gerade voll gepumpt mit jeder Menge „positiver Energie“ und die mussten sie erstmal zu Dreiakkordmusik langsam abbauen. Meine Antwort: „Tool“. Nützt aber auch nichts. Wenn mir die Ohren nicht hätten abfallen sollen, konnte ich die Musik einfach nicht noch lauter drehen. So fügte ich mich also in mein Schicksal zwischen ach-so-lieben Menschen und resignierte geistig völlig. Ich frage mich welcher Gattung Freak wohl der Fahrer angehörte, der den „Gesang“ auch noch die ganze Zeit billigte. Geschenkt. Wahrscheinlich sind Russen da immun.
Irgendwann, gegen 18:00 Uhr sind wir dann ja auch in Wolgograd angekommen und ich konnte mich allein auf den Nachhauseweg machen. Das war echt super.
Von der Überdosis, die ich damals bekommen habe, konnte ich bisher aber immer noch nicht erholen. Ich war erst einmal wieder zur Kirche danach. Da blüht mir noch ein Kreuzverhör bei der nächsten Beichte.
Ich denke, ich muss lernen „nein“ zu sagen.
Nächster Bericht.
Ich bin ja so intelligent
Nach 19 Jahren in Deutschland muss es erlaubt sein eine Frage zu stellen. Kann es denn illegale Deutsche geben? Ich meine, wir sind doch eigentlich immer die Guten – oder? Tja, eigentlich sind wir die Legalen. Uneigentlich war ICH letztens illegal unterwegs. Dazu muss man erstmal aber einen grundlegenden Unterschied zwischen Europa und Russland klarmachen. Bei uns sind die Grenzen offen und die Polizei schiebt nicht jede Sekunde Paranoia. Das ist in Russland anders. Hier gibt es immer und überall Polizeikontrollen. Meist genau dann, wenn die Jungs mal wieder ein bisschen Geld brauchen und irgendeine Kleinigkeit bemängeln, die eigentlich mehrere tausend Rubel Strafe kosten soll, aber zwei- oder dreihundert Rubel seien im Grunde genug – für jeden anwesenden Beamten. Nun ja, das ist ja eigentlich alles nichts Schlimmes. Wenn man nicht seinen Ausweis vergisst. Der ist nämlich in Russland wichtiger als Geld. Und als ich am letzten Wochenende nach Astrachan fuhr, hatte ich natürlich genau den vergessen. Ist mir natürlich auch gerade dann eingefallen als wir schon eine Stunde gefahren waren und mir den niemand mehr nachbringen konnte. Aber ich fange mal wieder mittendrin an. Früh morgens um sieben Uhr ging freitags der Autobus nach Astrachan. Und es war ein russischer Bus. „Gut“, sagte ich mir beim Anblick der eingeschlagenen Windschutzscheibe, der schmutzigen Sitze und der heraushängenden Leitungen für die Technik unseres außergewöhnlichen Straßenkreuzers, „wird schon alles laufen, schließlich fahren ja auch andere Leute mit diesem Karren.“ Irgendwie scheinen Russen aber härtere Hunde zu sein als ich, der ich nach einer Stunde Fahrt schon einen ersten Anflug extremen Pissdranges bekam und am liebsten schon da ausgestiegen wäre, als mir die Kiste mit meinem vergessenen Passport aufgefallen war. Da musste ich aber noch eineinhalb Stunden aushalten. Na ja, geklappt hat es dann ja. Wegen des Ausweises habe ich dann sofort Marco angerufen, der ihn mit dem nächsten Autobus nach Astrachan schicken wollte, damit ich ihn dann am nächsten Tag hätte. Das hat mich zunächst erstmal beruhigen können und so fuhren wir dann weiter. Mittags passierte mir dann gleich der nächste Fauxpas. Von Lea, die in Astrachan das Projekt der Assoziation „Papa Giovanni XXIII“ leitet und mit mir fuhr, wurde ich schnell in einen Tante-Emma-Laden geschickt, um etwas Essbares zu kaufen. Dummerweise fiel uns dass erst nach etwa 20 Minuten Pause ein und während ich im Laden darauf wartete, dass eine freundliche alte Dame aus dem Dorf endlich ihre Einkäufe beendete, wollte der Fahrer unseres Busses schon ohne mich losfahren. Dementsprechend aufgeregt kam mir dann, als ich endlich aus dem Laden rauseilte, Lea entgegen, die den guten Fahrer noch gerade aufhalten konnte. So verstrichen dann insgesamt ca. neun Stunden, die wir bis zur Grenze des Kreises Astrachan brauchten. Das Problem an dieser Grenze war, dass sie eine Grenze war. Das bedeutet: Dort kontrolliert die Polizei, ob nicht irgendwelche Idioten ohne Ausweispapiere illegal einwandern wollen. So ein Idiot saß ja nun bei mir im Bus. Und der schwitzte wie die letzte Sau. Zum Glück hielten mich die Milizionäre aber wohl für einen Russen, da sie meine Papiere nicht sehen wollten. Alles was irgendwie kleine Augen hatte oder sonst asiatisch aussah wurde sofort penetriert und komplett ausgecheckt. Ich dachte schon, dass alles überstanden sei, als an der Stadtgrenze noch mal kontrolliert wurde. Ich bekomme noch das Gespräch vorne zwischen Fahrer und Polizist mit: „Die Leute haben sich alle mit Passnummer bei ihnen eingetragen und sie haben das überprüft oder?“ „Nein, das machen die nur bei der Bahn, wir machen das ohne Passkontrolle“. Warum müssen denn immer alle Leute so gutherzig sein? Wieder ging also ein Polizist durch den Bus und sah jedem scharf ins Gesicht. Ich nahm im letzten Moment noch das Markenzeichen des Wohlstands aus den Ohren und versteckte den MP4-Player in der Jackentasche, bevor man noch vermuten konnte, dass ich Ausländer bin. Aber auch diese Hürde haben wir dann überwunden und – hey, was wäre das Leben ohne einen gewissen „Thrill“? Ich gebe aber zu, dass ich das in dem Moment erst nicht so gesehen habe. Schließlich kamen wir dann aber doch behütet im „Dom Lea“ („Haus Lea“) an, wo alsbald Abendessen aufgetischt wurde. Wunderbares Wiedersehen mit David. Nach dem Essen erstmal in die von ihm eingerichtete Rauchkammer und russische Lunten auf den Tisch. Austausch über die zuletzt gelesene Literatur, Arbeit vor Ort und Pläne wohin wir noch so fahren wollen. Abends haben wir uns dann einen Film zusammen mit „Deduschka“ angesehen. „Deduschka“ hat natürlich eigentlich einen anderen Namen (das Wort bedeutet soviel wie „Opa“ oder „Großväterchen“), aber den weiß noch nicht einmal David, also habe ich ihn auch so genannt. Der Film hieß „Shooter“ und war vor allem durch eine Menge Geballer gekennzeichnet, was sehr zur Freude „Deduschkas“ beitrug. Die groben Züge des Films haben David und ich ihm dann übersetzt, wobei er nur einmal den Kommentar abgab, dass es eigentlich am coolsten wäre, wenn nun endlich alle abgeballert würden. Damit habe ich den guten Alten natürlich direkt in mein Herz geschlossen und als er dann bei einer Zigarette noch den Ausdruck „Zigaretten essen“ im Sinne von „unglaublich schnell rauchen“ benutzte war der Tag bis auf den letzten Rest gerettet. Apropos Zigaretten: Wir haben mittlerweile mal Lunten, die man für umgerechnet 10 Cent bekommen kann, ausprobiert. Die sind echt nicht zu empfehlen. Drehtabak ist hier im Übrigen teurer als normale Filterlunten. Ein Päckchen Filterlunten kostet hier ca. 30 Rubel (dann hat man schon sehr gute) und ein Beutel Tabak etwa 100 Rubel (Samson). Aber das nur am Rande. Am nächsten Tag sind wir dann in die Innenstadt Astrachans gefahren, um dort die Obdachlosen zu versorgen. War ein ganz schön heikles Unterfangen, da ich immer noch keinen Ausweis hatte und die Polizisten dort scharf sind wie sonst nichts Gutes. Also habe ich die meiste Zeit über die Schnauze gehalten und nur leise mit David Deutsch gesprochen, sonst nur die Standardsachen mit den Obdachlosen auf Russisch. Abends gab es dann endlich meine Papiere und David und ich sind dann auf die Pirsch gegangen und haben ein wenig das russische Kneipenleben ausgekostet. Haben sonst noch den Kreml im Zentrum besichtigt, waren in einem Plattenladen (unverschämt – der war größer und günstiger als die hier in Wolgograd) und ich habe mir angeguckt wo David arbeitet. Sonntag ging es dann im Zug abends zurück. Leute, wenn ihr schlafen wollt fahrt nie in russischen Nachtzügen! Und wenn es sein muss, nehmt euch kein Zweite-Klasse-Ticket und pennt „oben“. Da bekommt man ein Holzbrett, was einen halben Meter breit ist und eine kleine Ablagefläche und das war es schon. Wer „Glück“ hat wie ich, kommt noch „nette“ chinesische Bettnachbarn, die einem wegen jedem Mist ankacken können, sodass ich am Ende so genervt war, dass ich mich einfach ohne Bettzeug zu nehmen hingelegt habe. Entsprechend habe ich nachts kein Auge zugetan und sah dann am nächsten Tag in Wolgograd richtig scheisse aus. Scheisse sehe ich zwar momentan sowieso aus, da ich mir die ganze Zeit hier über noch nicht einmal die Haare habe schneiden lassen, da immer wieder etwas dazwischen kam, aber das lassen wir mal außen vor.
Schließlich und endlich ist dann der Teilzeitillegale wieder zuhause angekommen und konnte dann den ganzen Tag entspannen, da der Zug nicht pünktlich angekommen war, sodass ich nicht zur Obdachlosenversorgung konnte.
Das war’s nun erstmal von mir. Werde demnächst wieder mehr schreiben. Wie schon so oft angekündigt.
Euer
Jörg
Schließlich und endlich ist dann der Teilzeitillegale wieder zuhause angekommen und konnte dann den ganzen Tag entspannen, da der Zug nicht pünktlich angekommen war, sodass ich nicht zur Obdachlosenversorgung konnte.
Das war’s nun erstmal von mir. Werde demnächst wieder mehr schreiben. Wie schon so oft angekündigt.
Euer
Jörg
Donnerstag, 15. November 2007
Kommt bald
Hi Kinder, ich schreib demnaechst sicher wieder einen ordentlichen Artikel hier hinein, aber im Moment geht das einfach ganz und gar nicht. Ich habe dafuer aber schon einen Plan, worueber ich schreiben kann und dann wird alles gut.
Ich lebe noch.
Joerg
Ich lebe noch.
Joerg
Freitag, 2. November 2007
Melde mich mal wieder
Ja, so regelmaessig schreibe ich nicht und dieser Eintrag wird auch wieder nur eher ein Lebenszeichen als ein Roman.
Am Wochenende fahre ich eventuell auf ein Jugendtreffen von der Kirche aus oder darf Hausherr spielen, da Marco wohl nach Italien auf die Beerdigung seines heute verstorbenen Mentors und Vorgesetzten gehen wird. Dann haette ich mal bis Mittwoch allein das Ruder in der Hand. Mal sehen, was so kommen wird. Habe mittlerweile an der Uni schon meinen zweiten Test absolviert und gehe dem Ende meiner ersten Lerneinheit dort entgegen.
Im Haus ist alles in Ordnung und ich gehe noch immer gern zur Arbeit.
Das war es erstmal.
Joerg
Am Wochenende fahre ich eventuell auf ein Jugendtreffen von der Kirche aus oder darf Hausherr spielen, da Marco wohl nach Italien auf die Beerdigung seines heute verstorbenen Mentors und Vorgesetzten gehen wird. Dann haette ich mal bis Mittwoch allein das Ruder in der Hand. Mal sehen, was so kommen wird. Habe mittlerweile an der Uni schon meinen zweiten Test absolviert und gehe dem Ende meiner ersten Lerneinheit dort entgegen.
Im Haus ist alles in Ordnung und ich gehe noch immer gern zur Arbeit.
Das war es erstmal.
Joerg
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