Am Wochenende war es endlich soweit: David ist aus Astrachan zu Besuch gekommen. Früh morgens um acht Uhr ging es mit dem Auto zum Bahnhof, wo ich einen ziemlich übermüdeten (nach zehn Stunden Bahnfahrt) und recht hilflos dreinblickenden Freiwilligen aus der Eingangshalle abholte. Danach ging es erstmal auf den Fischmarkt, um neue Angelsachen für Jura zu kaufen und nach Hause, wo David sein Zimmer beziehen konnte. Ohne weitere Umschweife nahmen wir dann die nächste „Maschrutka“ ins Zentrum. Dort konnte ich dann erstmal meine Fähigkeiten als Touristguide unter Beweis stellen. Leninstatuen, das große Theater, das Rathaus und meine Uni, das Panorama-Museum und die Hauptstraße wollten besichtigt werden. Als wir uns schließlich niederließen, um uns ein paar fettige „Kottleti“ reinzuschieben (Hühnchenfleisch mit Pilzen und Käse in einem Panademantel) und schließlich eine Zigarette rauchten, um dem Tag das richtige Doping zu geben, wurden wir pronto von einer äußerst voluminösen Dame angesprochen, die wohl auch nach einem Glimmstängel trachtete. Bereitwillig kramte ich eine Marlboro hervor und übergab sie in die speckigen Pfoten der Passantin. Als ich nun die darauf folgende Frage nicht verstand, sah ich mich prompt wieder in der Not erklären zu müssen, dass ich Ausländer sei und fragte höflich, ob sie denn Englisch spräche. Und wie es der Zufall, „der alte Satansbraten“, so will, konnte sie recht gut und fast akzentfrei Englisch sprechen. Und wie. Sie hörte gar nicht mehr auf zu quasseln und wollte alles über David und mich, unsere Tätigkeit hier, unsere Familien und so weiter wissen. Das ist an sich nicht verwunderlich, sicher, die meisten Russen sprechen nicht mehr als „yes“, „no“ und „I don`t understand“, aber interessiert ist eigentlich jeder an dem, was man so macht. Von daher kamen uns erst dann erste Zweifel an dieser Person, als sie fragte, ob wir nicht etwas über sie erfahren wollten, ich dies bejahte und sie dann fragte warum wir nichts wissen wollten. Schließlich konnten wir sie aber wieder aus ihrer „Beleidigte-Leberwurst-Stimmung“ befreien und sie erzählte über ihr Leben. So gingen dann eigentlich ganz nette zehn Minuten ins Land und ich wollte dann ganz standardmäßig entschuldigen, dass wir nun aber unbedingt noch zur „Mamaef Kurgan“ müssten, da David die Stadt ja noch nicht kennen würde. Mit folgendem hatten wir aber nicht gerechnet: Die sprechende Qualle wollte nun mit uns zusammen die Stadt erkunden. Leicht genervt willigten wir aber dann ein sie mitzunehmen. Kurz vor der Metro dann die nächste Unverschämtheit. Sie hatte gar kein Geld und wollte, dass wir ihr das Ticket bezahlen. Die sechs Rubel teilten David und ich uns dann (sind dann schließlich nur noch circa sieben Cent). Angekommen am Mahnmal ging die Quasselei wieder weiter. Sie sei so stolz auf ihren 14jährigen Sohn, der ja so intelligent sei und sei so glücklich mit ihrem Freund, einem Tauchlehrer für Wolgatouristen und so weiter und so fort. Als wir schließlich an einigen Rekrutinnen der russischen Armee vorbeigingen (davon gibt es fast so viele wie von den männlichen Pendants), fragte uns der Hefefladen doch tatsächlich, ob wir auf Frauen in Uniform stünden, ob wir Sex mit Männern gehabt hätten und erschlug uns fast mit ihrer unglaublich liberalen Einstellung, dass Menschen immer und mit jedem darüber reden sollten. Als ich dann trocken bemerkte, dass es wohl bei jedem selbst läge wann und mit wem er darüber reden wolle kam bewundernd zurück, dass das eine „sehr interessante Ansicht“ sei. Als wir dann an die in Fels gehaunen Rotgardisten passierten bemerkte sie fast beiläufig, dass sie der Meinung sei, der Krieg habe nie stattgefunden und sei eine Erfindung der Politik. Synchrones Wegdrehen seitens Davids und meiner, da uns simultan die Erinnerung an vor Intellekt strotzende Aussagen wie „Hitler hat nicht nur Schlechtes getan“ von Neofaschisten ins Gedächtnis schoss und wir uns an Ufosektenansichten erinnert fühlten. Als ich ihr dann behutsam beibrachte, dass der Krieg bewiesenermaßen stattgefunden hatte und sie doch bitte darüber nun die Klappe halten sollte (manchmal hat Wittgenstein doch recht: „Worüber man nichts weiß, darüber muss man schweigen!“), war das auch kurz für sie in Ordnung. Als wir aber schließlich oben bei der Statue angelangt waren bewegte sich das massige Gesicht wieder, um uns die Freundschaft und zukünftige Treffen anzubieten. Und da schlug wieder der gemeine „Bono“-Gutmensch in mir zu. Ich konnte diesem scheinbar hilflosen Wesen natürlich diese simple Bitte nicht abschlagen und sofort wurden Handynummern getauscht und sie hatte noch die traurige Geschichte von ihrer gescheiterten Ehe zur Belohnung auf Lager. Als sie uns danach wieder mit anderen Dingen auf den Wecker gehen wollte und sich anschickte uns auch den Nachmittag zu stehlen sagte ich dann entschieden, dass wir uns lange nicht gesehen hätten (David und ich) und deswegen nachmittags etwas zu zweit unternehmen wollten. Das schien dann erst in Ordnung für unser Pummelchen mit den verworrenen Ansichten. Eine halbe Stunde später aber ging schon das Handy. Wann ich Zeit hätte um sich zu treffen etc, etc. Einmal mehr danach musste ich sie danach noch abwürgen und hoffe ihr nun klargemacht zu haben, dass ich sehr, sehr wenig Zeit habe, woraus ein normaler Mensch auch entnimmt, dass ich keinen Bock auf ein Wiedersehen habe. Den Rest des Tages zog mich dann ein sehr amüsierter David, der ja aus dem Schneider war, da er von Astrachan aus sich wohl nicht mit ihr treffen konnte, die ganze Zeit mit meiner neuen bärtigen (ja, Unterlippenbart hat sie auch), kugeligen Freundin aus der „Sumo-Ringer-Branche“ auf. Am Abend konnten wir dann aber glücklicherweise nur noch über die eine der beiden großen Damen reden (nämlich die Mutter Heimat) und die andere Bekanntschaft ruhen lassen. Ganz deutscher Standard ließen wir uns dann auf der Terrasse mit Bier und Kippen nieder und haben uns echt mal angenehm über unsere Projekte ausgetauscht. Am Sonntag sind wir dann mal zur Wolga runter und sind auf eine (wenig erfolgreiche) Shoppingtour durchs Zentrum gegangen, da ich unbedingt so langsam mal Wintersachen brauche. Die Winterjacken sind hier allerdings entweder Mäntel, in denen ich ziemlich alt aussehe, Daunenjacken, die mir noch nie wirklich gefallen haben oder noch Herbstware, also für den Winter nicht zu gebrauchen. Abends waren wir dann zu spät am Bahnhof, um David eine pünktliche Heimreise zu kaufen, da alle Tickets schon vergriffen waren. Also musste er wohl oder übel noch einen Abend mit Marco und mir, Chips und Bier (sollte ich Dichter werden?) verbringen. Montagmorgen waren dann der nette Besuch und die angenehme Zeit des Deutschredens vorbei und der Alltag hat wieder begonnen. Wie der aussieht wisst ihr ja mittlerweile auch schon halbwegs aus den anderen Berichten. Ich versuche auch noch mal gern Fotos ins Internet zu stellen, aber werde meist durch Unlust ob des langsamen Internets davon abgehalten und verschiebe das auf den wunderbaren, unbekannten Tag X, an dem ich hier endlich eines „der vielen“ Internetcafés finde. Ich verbleibe in der Hoffnung auf Antworten, darauf, dass ich den „Delete-Knopf“ für die Qualle Anna finde. Bis nächste Woche euer
Jörg
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4 Kommentare:
heyho,
dein blog ist echt ne richtige lesefreude.
finde ich super, dass du so ausführlich berichtest.
bei mir gehts jetzt nächste woche mit den vorlesungen los.
davor steht dieses wochenende noch ein erstsemester-wochenende, organisiert von der fachschaft, an.
wenn ich die ersten vorlesungen hinter mir hab, schreib ich dir nochmal ausführlicher.
bis denne
lg,
Marten
Hei Jörg!
Ich wollte dir mal ein Kompliment machen: finde es wirklich toll nicht nur, dass du so ausführlich von deinem Erlebtem berichtst, sondern auch, dass du es auf eine Weise tust, die einem lesefreudigen Auge schmeichelt! Ich mag deine Erzählweise, die wirklich gut veranschaulicht, was du erlebt hast! Deine Beschreibungen über die Arbeit mit den Obdachlosen hat mich besonders berührt- es scheint wirklich eine lohnende Zeit für dich zu sein. Schön! Weiter so :)
Ich wünsch dir alles Gute!
heyho bruderherz!
alles klar bei dir dahinten?
hab grad deine blogadresse von mama bekommen und bin sofort draufgegangen.ist echt super geworden (viel besser als meiner..schäm) die berichte sind echt total toll geschrieben!!!ich hoffe,dass es dir gut geht und dass die arbeit nicht zu anstrengend ist...ich bin wirklich stolz dich als bruder zu haben =)
ich glaub mein ganzen lycée weiss schon,dass du in wolgograd bist und was du da machst.meine englisch lehrerin war so was von begeistert,dass wir jetzt alle nen aufsatz über n auslandsjahr und so was schreiben müssen =)
nunja,ich hoffe mal die dicken frauen lassen dich jetzt in ruhe =)
so,in 2 tagen kommen mama,papa,franzi und maria ja schon an und ich freu mich total.ansonsten gehts mir echt gut.hab wirklich nette freunde gefunden mit denen es sich hier gut aushalten lässt.allgerdings vermiss ich dich und den rest der family schon...
guuut,ich ruf dich mal die tage an.
gaaanz liebe grüsse!
halt die ohnren steif,
dein schwesterchen :-P
Lobt mich nicht so Leute, ich bin auch stolz so viele gute Freunde zu haben, die auch noch Interesse an einem zeigen, wenn man nicht in der Nachbarschaft wohnt. Freue mich jedes mal wieder, wenn ich hier an den PC kann, um hier Kommentare zu lesen, bei studivz Nachrichten abzuholen oder Emails zu lesen.
Bis demnaechst, gehe gleich mit Ruslan schwimmen!
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