Es ist sieben Uhr morgens. Nach einer schrecklichen Nacht, in der mein Schlaf ständig von Killer-Köter Muktar unterbrochen wurde, geht es mit ziemlich dicken Augen erstmal nach unten, wo ich jedem den ich treffe ein „dobrej utra“ entgegenmurmele. Dann wird erstmal so heiß wie möglich geduscht. Nach circa 20 Minuten fühle ich mich dann menschlich genug um das Bad wieder zu verlassen und fange an (entweder allein oder mit jemand zusammen) das Haus durchzufegen und durchzuwischen. Während dessen bereitet jemand anders schon mal die Suppe in einem wirklich monströsen Bottich vor. Einmal hat mich Irmhild Ehrlich (deutsche Missionarin, die anfangs zwei Wochen hier war, nun wieder zurück in Deutschland ist) gefragt, ob wir die Suppe auch essen würden. Sie hatte die natürlich noch nicht gesehen. Ruslan knallt da einfach alles rein was irgendwie essbar ist und macht es dann warm. Hat mich persönlich immer ein wenig an Eintopf erinnert: Der Vorratsraum wird ausgeräumt und in einen Topf gepfercht, dann zermatscht und gut umgerührt, erhitzt und dann serviert.
Trotz alledem ist allerdings zu erwähnen, dass die Suppe genau wie der Eintopf sicher gesund ist, nur eben nichts für meinen verwöhnten Magen. Der bekommt dann morgens erstmal einen oder zwei Äpfel, damit der Vitaminspiegel auf Hochtouren gebracht wird. Dazu dann irgendeine Wurst auf Weißbrotscheiben und eine Tasse Tee. Der Nachtisch wird dann natürlich wieder etwas nikotinhaltiger, aber ich achte dann darauf nur „Lights“ zu rauchen. Nachdem dann auch der Tee fertig abgefüllt und gezuckert ist, kommt die ganze Bagage in den Wagen und Marco, Ruslan und ich machen uns auf den Weg zum Caritas-Wagon. Auf dem Weg dorthin müssen wir meist noch einige Läden abklappern, da die Plastikteller, -löffel und -becher hier scheinbar Mangelware sind. Schließlich schaffen wir es dann aber an eine andere Stelle des Stadtrandes, wo wir von einem netten Pförtner auf einen alten Krankenhausparkplatz gelassen werden. Dann wird es ein wenig urig: Auch wenn die Straßen in Russland eines der beiden größten Probleme darstellen (vgl. dazu Bahira, eine Dermatologin aus Moskau, die bei uns zu Gast war: „Russland hat zwei Probleme – Infrastruktur und Idioten“), so ist dieses stark „verwaldete“/verwilderte Gelände hinter dem Krankenhaus mit seinen Trampelpfaden schon ein richtiges Erlebnis, da wir erstmal noch ein ganzes Stück mit der Karre hineinfahren.
Dann geht es aber an die Arbeit. Wir steigen aus dem Wagen aus und Teller, Becher und Löffel, Teekannen und die Suppe, sowie ebenfalls unterwegs gekauftes Brot werden schleunigst Richtung Wagon gebracht. Aus diesem holen Ruslan und ich dann Bänke und einen Tisch. Auf letzterem werden dann die Suppe und die vollen Teebecher abgestellt. Daneben steht Ruslan und gibt das Brot aus. Mittlerweile habe ich natürlich schon diverse Techniken entwickelt, um meinen Teil des Jobs (den Tee) möglichst effizient zu erledigen. Die ersten paar Becher schöpfe ich aus dem Bottich, dann erst wird eingegossen. Die Obdachlosen sind unglaublich dankbar für das was sie von uns bekommen. Sie bedanken sich immer gleich mehrere Male für Suppe, Brot und Tee. Es kommen ihnen auch Komplimente über die Lippen die einen gerade dann, wenn man morgens noch in einer eher egozentrischen Gedankenwelt, geprägt von dem Wunsch nach zehn vollen Stunden Schlaf, gelebt hat, richtig beschämen können. Nach meinen nunmehr anderthalb Monaten hier kann ich schon sagen einiges besser verstehen zu können und wenn die Leute nicht alkoholisiert sind kann ich mich schon ein wenig mit ihnen unterhalten, Fragen stellen und Antworten aufnehmen oder selbst über mein Leben in Deutschland erzählen, was die meisten auch brennend interessiert. Wenn man ehrlich ist, sind die Nahrungsmittel nur die nötige Fassade für unsere eigentliche Arbeit. So wie ein Haus nicht ohne die Mauern steht, so könnten wir auch nicht ohne Viktualien zu den Obdachlosen gehen, aber genau so wenig wäre das „Haus“ Haus, wenn es nicht eingerichtet wäre, wenn kein Leben drin wäre. Dieses „Leben“ aber schaffen wir nicht durch die Versorgung, die ist nur Basis. Es sind dann vielmehr die Gespräche hinterher. Die Möglichkeit für den Mann, dessen Hände blutverkrustet über seinen wilden Bart streichen, um die gröbsten Essensreste und den Schmutz, der sich angesammelt hat, zu vertreiben, oder für die Frau, deren Augen aufgedunsen sind von schlaflosen Nächten unter Mengen von Alkohol mit nichts um sich herum als den Klamotten, die sie anhat, die dann noch mit Schlappen barfuss läuft, wenn ich schon in Winterschuhen mit Socken friere, die einen sechzig Jahre alten Hut trägt und deren Gesicht nicht braun vom allwöchentlichen ALDI-Toaster, sondern von kalter, harter Erde ist, mit jemandem zu reden. Für einen Moment, in dem jemand zuhört, der nicht weiß wie das ist, der interessiert ist, hört dann das stete Zittern der Lippen auf und es füllt sich manchmal das ein oder andere Auge mit Wasser – immer zu kurz, als dass es ein Weinen gewesen wäre, aber lang genug, um es zu bemerken.
Mit einigen der Obdachlosen bin ich nun auch bekannt. Sie grüßen immer sehr nett schon von weitem und wir kennen uns beim Namen. Zwei der etwa 50 Obdachlosen gingen auch jeden Sonntag zur Kirche. Einen der beiden, Andrej, haben wir allerdings nun schon länger nicht mehr gesehen und sein Freund Jura weiß auch wohl nie genau wo er steckt, weswegen ich ein wenig besorgt bin, da hier auch wirklich heftige Dinge passieren. Zum Glück musste ich es nicht mit ansehen, aber einem Obdachlosen ist wohl in der Stadt nachts mit einer Axt der Schädel gespalten worden und die anderen wurden tags darauf von der Polizei zur Identifizierung des Leichnams angekarrt. Aus Astrachan erzählte David, dass dort einer Obdachlosen der Rollstuhl gestohlen wurde – einer Frau ohne Beine. Was man also sicher sagen kann ist, dass es auf der Straße keine Gesetze gibt. Genau genommen sind also die Obdachlosen gleichzeitig beinahe Gesetzlose. Das meine ich nun nicht im rein negativen Sinne, sondern eher in einem Konstatierenden. Denn auf der einen Seite werden sie vom Gesetz nicht geschützt – sie brauchen von der Polizei keine Hilfe erwarten, sie können keine Vereinigung anrufen oder sich sonst auf ihr Recht berufen. Auf der anderen Seite hätte aber auch ein durchgesetztes Gesetz auf der Straße, wo es um das nackte Überleben geht, wohl kaum Relevanz. Immer wieder sieht man einige der Leute, die am Vortag noch recht ordentliche Hosen und Pullover hatten, am nächsten Tag mit dicken violetten Flecken am ganzen Körper, die Kleidung zerschlissen und schmutzig. Das Schlimmste was ich bisher miterleben musste war der Besuch einer „Behausung“, die sich die „ribiati“ wohl berauscht irgendwann einmal zusammengebaut hatten. Unter einigen mit Brandlöchern versehenen Decken, zugepissten Klamotten, einem uralten verdreckten Schlafsack schlief, völlig alkoholisiert eine Obdachlose. Als wir uns ihr näherten wurde der Gestank immer schlimmer und ließ schon auf einiges schließen, was noch unter den Decken sein musste. Als wir sie wecken wollten machte sich schließlich ein neben ihr unter alledem pennender Straßenköter bemerkbar, der aggressiv kläffend sein Revier zu verteidigen suchte. Als der vertrieben war konnten wir endlich die stark fiebrige Frau mit Medikamenten versorgen.
Wie dicht Feindseligkeit und Freundschaft bei den Obdachlosen hier zusammenhängen habe ich auch schon erlebt. Zwei von ihnen umarmten sich erst wie alte Buddys, als der eine zur Essensausgabe angeschlurft kam. Dann wurden vielleicht vier oder fünf Worte gewechselt und es entwickelte sich eine kurze Schlägerei zwischen den beiden, dass niemand dazwischen gehen wollte und schließlich nahm der eine dann den anderen mit zur Seite und dort umarmten sie sich wieder herzlich und drückten sich dann fest, um sich gegenseitig in die Luft zu heben.
Bisher bin auch schon zweimal extrem Alkoholisierten begegnet. Das eine Mal war das eigentlich gar nicht wild – der alte hatte gut getankt und wir ihn ausnahmsweise dann trotzdem mit Essen versorgt. Weil er das selbst nicht mehr tragen konnten, hatten wir es ihm dann zum Essensplatz seiner Wahl gebracht. Dort fanden wir ihn kurz darauf auch rücklings schlafend, die Suppe über seine Kleidung verteilt, wieder. Ein herrliches Bild, aber ich hatte den Fotoapparat vergessen, den Marco da am liebsten mal ausgeliehen hätte. Das andere Mal war erst gestern, als ein bestimmt zwei Meter großer und kräftig gebauter, relativ junger Obdachloser, der sich noch nicht einmal mehr artikulieren und nur mit Mühe auf den Beinen halten konnte, in den Wagon torkele und ich just im Eingang stand und erstmal einen Meter zurück gegangen bin. Zum Glück hörte er schließlich auf unser Einreden, dass er warten müsse, bis er versorgt würde oder nie wieder etwas bekommen würde.
Im Großen und Ganzen aber ist die Arbeit beim Wagon immer ein kleines Abenteuer, bereichert und macht Spaß. Es ist sicherlich anderer Spaß als wenn im Kinderzentrum die kleinen einem zeigen wie sie am liebsten tanzen oder was sie so malen und was sie alles auf Englisch sagen können. Aber wenn ich von den Obdachlosen weggehe habe ich immer das angenehme Gefühl sicher nichts falsch gemacht zu haben.
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