Freitag, 5. Oktober 2007

Ein Tag im Kinderzentrum

Mit den Rolling Stones im Ohr geht es, gut voll gepumpt mit Nikotin, von der Hauptstraße in eine Seitengasse. Die schwarze Mütze tief ins Gesicht gezogen, die große dunkle Sonnenbrille auf der Nase, meine nachtschwarze Fließjacke übergezogen, Bluejeans und Segelschuhe an Beinen und Füßen, als einzigen Farbklecks manchmal meinen lila Schal um den Hals – die Erscheinung mag manche Passanten erstaunen, gerade wenn diese dann auf das katholische Kirchengelände abbiegt und flugs in einem alten Treppenhausfragment verschwindet, um eine Etage tiefer ins Kinderzentrum zu gehen. Dort folgt meist zunächst eine kurze Striptease-Einlage, da die Sachen, die ich morgens anziehe sich nach dem Wetter morgens richten, welches bisher um die Mittagszeit immer sehr unterschiedlich war. Innerhalb weniger Stunden wird es von eiskalt höllisch heiß hier. Von Jacke, Mütze und Schal befreit geht es dann zunächst meist noch mal nach draußen, um meine letzte Zigarette zu rauchen, bevor die Kleinen kommen, vor denen ich natürlich keine Glimmstängel auspacken darf (der Schein sei der Erziehung zur Liebe gewahrt). Das Kinderzentrum selbst ist „einfach gehalten“, um es mal schlicht auszudrücken. Man mag aber auch unken, dass das Gebäude bereits länger steht als die Neandertaler liegen, wenn ihr versteht was ich meine. Drinnen ist es allerdings bedeutend netter eingerichtet als der äußere Schein vermuten lässt. Es gibt eine saubere Toilette (ich erwähne das, weil man die sogar in Restaurants schwerlich findet), einen großen „Versammlungsraum“, dessen Tische und Stühle aber meist der Tischtennisplatte weichen müssen – sehr zu meiner Freude (Stefan, nimm dich in Acht!) – sowie einen kleineren Raum, der auf einen kleinen Durchgang mit Küche folgt, in dem ein Tisch und Stühle zum Basteln, Schränke für alle möglichen Utensilien, ein Schreibtisch für den Papierkram und vor Nostalgie strotzende Computer stehen. Für den nötigen geistlichen Beistand sorgen die Mutter Gottes und ein kleines Gebet (welches kann ich leider noch nicht sagen) an den Wänden. Im Großen und Ganzen ist alles sauber, wobei einem manchmal eng werden kann, wenn die ganze Mannschaft sich in der kleinen Hütte drängt. Aber dann kann man ja immer noch nach draußen gehen und eine Partie Badminton spielen, wobei man tunlichst darauf achten sollte, seinen Elan zu zügeln, was die vielen spitzen Steine und Metallgegenstände auf dem Gelände vor dem Kinderzentrum aufs Peinlichste gebieten.
Aber zurück zu meinem Arbeitstag. Ich warte also nach der Kippe drinnen, lese eines der vielen Bücher, die ich mit rüber genommen habe (ich glaube fast, dass Literatur den Großteil meines Gepäcks ausgemacht hat, obwohl ich ja zuhause kaum gelesen habe. Mittlerweile erweist sich dies aber als wahrer Segen, da ich so jede Pause sinnvoll und – nun ja, bleibe ich mal schwammig – bereichernd nutzen kann). Zwischen ein und zwei Uhr kommen dann die Kinder. Ein Handschlag, „Privjet“, dann raus mit dem Hausaufgabenheft und ich helfe schon mal den französischen Text über „Trampen an die Côte d’Azur“ zu übersetzen. Das ist eine meiner Lieblingsaufgaben. Da ich des Russischen natürlich nicht viel mächtiger bin als die meisten Kinder hier des Englischen nach drei oder vier Jahren Unterricht, muss ich entweder die Dinge auf Englisch übersetzen, die dann wiederum ein älterer Junge, der schon fünf oder sechs Jahre Englisch hat, ins Russische übersetzt oder ich bin gezwungen die Situation à la „Activity“ zu erklären. Im Klartext fordert das nicht selten das Lösen eines gordischen Knotens, wenn man nur pantomimisch, durch malen und ein paar Wörter den Satz: „Zwei Schauspieler, ein Mann und dessen Frau, mimen an einer Bushaltestelle, in der Nähe eines Bootsanlegers in einem Vorort von Paris, Tramper verschiedenen Aussehens, um herauszubekommen, welches Aussehen den besten Eindruck auf Autofahrer macht, während ein Journalist in einer uneinsichtigen Ecke die Erfolge und Misserfolge zählt“ ins Reine bringen soll. Bei diesem Musterexemplar widerlicher Verschachtelungen (meine nachträgliche Entschuldigung an meine Geschichts-, Deutsch-, und Englischlehrer) mussten wir natürlich auch manchmal das Lexikon zur Hilfe nehmen. Da dort aber auch nicht alles drinsteht, frage ich mich wie die Kinder die Hausaufgaben wohl lösen, wenn ich nicht dabei bin. Sei’s drum – nun bin ich ja da und stehe nach Vermögen zu diensten. Zu zwei Uhr dann gehen alle Kinder mit Gruppenleiterinnen und mir zur Mensa, zwei Straßen weiter. Dort angekommen, werden erstmal die Handys ausgepackt und es wird eifrig die neuste Musik verglichen und wer dazu noch Clips spielen kann und die Mucke in Ohrzerberstende Lautstärke reißen kann ist dann der King of Currywurst, beziehungsweise Kantinenfraß. Denn nachdem sich alle aus der Schule kommenden Kids versammelt haben geht es dann hinein in die Fressbude, in der sich die Lieben dann auch meist sehr ordentlich betragen wollen, da es extra zu diesem Zweck auch eine Hausordnung (von ihnen selbst aufgestellt und unterzeichnet) gibt. Zunächst werden die Hände gewaschen, dann wird das Essen von einigen serviert. Alle warten hübsch, bis jeder alles hat und fangen dann erst an zu panschen. Ein besonderer Leckerbissen ist die Suppe, die bis kurz vor dem Servieren noch in zwei Bestandteile geteilt ist: Heißes Wasser mit Brühwürfel, zumeist Kartoffelstücke und ein bisschen Gemüse trifft erst, wenn es aus dem großen Pott auf den Teller gegeben wird auf ein armselig kleines Stückchen Fleisch, welches sobald aus einem anderen Schälchen dazukommt. Ich möchte nicht gehässig klingen, aber ich finde es einfach nur zu niedlich, dass das Fleisch so exakt portioniert wird, als wenn es nicht auch noch welches im Hauptgang gäbe. Dieser besteht dann meist aus ein wenig von selbigem und Gemüse oder Reis. Nie besonders viel, aber da ich meist kurz vorher erst frühstücke ist das schon in Ordnung. Ein wahres Abenteuer ist meist der Salat. Er besteht wohl aus zwei Arten außerkosmischen Krauts (weiß und rot, aber es sind nicht Weißkraut und Rotkohl, die beiden Widerlinge kenne ich ja), nackendem Fisch, den man ein wenig matschen kann (dann hängt er in glibberigen Fäden die Gabel hinunter) und zu guter letzt einer weißen Sauce, die irgendwie, weil so niedlich garniert, an etwas zähflüssigere Kokosmilch erinnert. Meist kann ich einen guten Tausch machen, der mich, nachdem ich diesen „gesunden“ Leckerbissen abgetreten habe, eines weiteren Nachtischteilchens mit Zuckerguss bemächtigt. Dazu gibt es meist einen edlen Tropfen aus dem Trinkpäckchen. Okay, das Essen ist wie ihr sehen könnt kein Hochgenuss, aber dafür ist es ja nun einmal umsonst und einem geschenkten Gaul … ihr kennt die Story.
Beachtenswert ist, dass sowohl in der Mensa als auch im Kinderzentrum eigentlich fast alle Gebote eingehalten werden. So sind die Kinder immer zuvorkommend, geben die Hand, verhalten sich (spätestens nach einer kurzen Ermahnung) ruhig, werfen sich keine Schimpfwörter an den Kopf (sicher entflieht ihnen auch mal ein „Scheiße“ oder „Wichser“, aber das nur im Bezug auf einen durch sich selbst missglückten Aufschlag beim Tischtennis oder auf einen Fehler in den Hausaufgaben). Das einzige, was die Kleinen nicht können ist aufhören sich zu kloppen. Dabei gibt es meist einen gewissen Ablauf. Die Kleinsten zanken sich meist untereinander mit viel Spielerei, bis die Größeren auch Lust bekommen (wieso sollte es auch der Kleineren Vorrecht sein sich prügeln zu dürfen?) zuzulangen, was wiederum recht ungleiche Duelle gibt. Scheinbar bin ich, neben denen, die es abbekommen, aber der einzige, den das stört. Ich will nicht sagen, dass sich in der Gruppe ständig gehauen wird, aber doch um einiges öfter als ich es aus meinen Gruppenstunden in Aschendorf kenne und Messdiener sind schließlich auch keine besseren Menschen. Ich denke, ich werde nun verstärkt Russisch lernen, damit ich auch mal verbal dazwischen gehen kann, wenn es wieder heißt:„In der blauen Ecke der 16jährige Sergej … und in der roten Ecke der 10jährige Andrej.“
Nach dem Essen dann geht es mit all denen Kindern die noch Lust haben wieder zurück zum Kinderzentrum. Dort werden dann wieder die Französisch-, Englisch- oder Deutschsachen ausgepackt und ich helfe beim Lesen und Übersetzen von Texten. Wer will kann aber auch Tischtennis spielen, Badminton zocken, basteln, malen, Schachspielen oder was auch immer die Materialien hergeben. Möglichkeiten sind genug da und die Kinder organisieren sich die Zeit dann selbst. Ich gehe meist mit denen, die mich konkret fragen ob ich dies oder das mit ihnen lernen oder spielen will. Lange warten muss ich darauf selten, dafür bin ich – zumindest jetzt noch – viel zu interessant. Wie wohl das Leben in Deutschland sei? Ob es bei uns auch Ampeln gebe oder ob wir den Verkehr intelligenter regeln? Ob deutsche Städte viel sauberer seien? Manchmal schlägt aber auch der russische Nationalstolz zu:„Welche russischen Sänger kennt ihr denn so in Deutschland?“ „Nun“, muss ich dann immer antworten, „außer T.A.T.U. kennen die meisten Deutschen nicht eine russische Gruppe“. Dass ich persönlich auch von denen kein Fan bin verschweige ich dann galant, um nur schnell hinzuzufügen, dass ich selbst natürlich russische Musik sehr verehre, was noch nicht einmal gelogen ist, denn es gibt gerade was russische Volksmusik angeht Anspruchsvolleres als das Popgenre vermuten lässt oder wenn man von unserer deutschen Volksmusik ausgeht: was potthässliche Röcke und jodelnde Opas mit Ganzkörperwildwuchs vermuten lassen.
Herrlich ist aber auch der Sprachenmix im Kinderzentrum. Mit einem vielleicht 14 oder 15 Jahre alten Jungen rede ich Französisch, mit den beiden ältesten Englisch. Mit den anderen behelfe ich mir mit meinem wenigen Russisch und zwei anderen helfe ich mit Deutsch. Gerade beim Tischtennis wird es dann witzig: Je nachdem, mit wem ich spiele wird mal in dieser, mal in jener Sprache gezählt. Wird dann ein „Niet!“ in den Raum gebellt, wenn mein Gegenüber 15 zu 7 auf Englisch sagt, steht immer die Frage im Raum, ob das Ergebnis oder die Aussprache korrigiert werden sollte.
Die Gruppe selbst besteht mal aus mehr, mal aus weniger Kindern. Zumeist sind wir etwa fünfzehn in der Mensa, später dann im Zentrum noch sieben bis zehn. Dies ist aber von Tag zu Tag variabel. Ironischerweise kommt auf drei Gruppenleiterinnen gerade mal ein Mädchen, der Rest der Gruppe besteht aus Jungen, sodass ich nun den Leitwolf spielen darf. Die Rolle an sich ist ja ganz witzig, so kann ich immer bestimmen was „cool“ und was „lahm“ ist, trägt aber auch einiges an Verantwortung mit sich. Die Kinder sind ganz verschieden alt (schätzungsweise zwischen zehn und sechzehn Jahren) und auch charakterlich ganz verschieden. Die einen sind noch recht kindlich, während andere schon voll pubertieren (nur erwachsene Züge hat noch keiner von ihnen, wie ich immer dann, wenn ich einen für etwas reifer als die anderen beurteilen möchte durch eine Rauferei einsehen muss), einige reden schnell und viel mit mir, andere setzen sich lieber an einen kleinen Dreiertisch und fangen dann mal ein Gespräch an. Über sie zu sprechen bin ich leider bisher noch kaum gekommen, aus den Unterlagen der Caritas aber geht hervor, dass die Elternteile häufig beide trinken und/oder spielen und die Kleinen dadurch zuhause keine wirkliche Beachtung erfahren und auch keinen ausreichenden Raum haben sich zu entwickeln. In der nächsten Zeit hoffe ich eventuell mal eine Familie des einen oder anderen besuchen zu können, um eventuell mal selbst einen Eindruck zu bekommen. Die Wohnungen sollen nämlich auch nicht wirklich für die Anzahl der Bewohnenden gemacht sein.
Ich hoffe, ihr habt nun einen kleinen Einblick in meine Tätigkeit bekommen. Ich werde in dieser Woche auch versuchen einige Bilder hoch zu laden, damit ihr euch besser vorstellen könnt wie alles aussieht. Bis dahin fühlt euch so erhaben wie die Leute, die immer behaupten das Buch sei um Längen besser als der Film, da dieser die Phantasie zerstöre und allgemein nur so wenig von dem einfange, was geschrieben stehe. Jetzt habt ihr mal ein bisschen mehr zu lesen als die letzten Male. Ich hoffe, ich kann das nun jede Woche so machen.
Bis dahin nächste Woche


Jörg

5 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Hey Jörg!

Hab mich mal wieder auf deine Seite verirrt- scheinbar zum rechten Zeitpunkt, denn nun gibts ja mal richtig was auf die Augen!
Deine ausführlichen Beschreibungen vermitteln doch einen sehr guten Eindruck von dem, was dich so beschäftigt! Was liest du denn so? Wäre schön, wenn du mal ein paar Empfehlungen preisgeben könntest- ich versuche nämlich momentan auch meine viele freie Zeit u.a. mit Lesen zu füllen. Und für meine Verhältnisse klappt das schon ganz gut :)
Du schriebst auch vom Verantwortung übernehmen bei deiner Arbeit...das kommt mir durch meine momentan einzige Tätigkeit mit Kindern, die ich musikalisch erziehe, doch vertraut vor. Ich finde, das ist eine faszinierende und zugleich schwierige Aufgabe. Ich wünsche dir, dass du sie zu deiner Zufriedenheit bewältigen kannst und weiterhin Freude bei deiner Arbeit hast!
Alles Gute! Die Erdmann

Anonym hat gesagt…

Hey Jörg,
endlich können wir uns konkret ein Bild über deine Tätigkeit mit den Kindern machen.
Gestern traf ich vor dem Gottesdienst eine ältere Frau aus Aschendorf, die mir mitteilte, dass ihre Schwägerin und ihr Bruder dich in Wolgograd gesehen haben. Wir haben uns natürlich sehr darüber gefreut! Frau Anneken erzählte mir, dass ihr Bruder eine Schifffahrt auf der Wolga unternommen hätte. Sie hat ihr nun unsere Telefonnummer gegeben, damit ihr Bruder uns über eure Begegnung berichten kann.
Gestern Nachmittag waren wir mit Franzi Minigolf spielen. Ich habe natürlich verloren. Heute hat sie ihre erste Erdkundearbeit bei Herrn Reich geschrieben.
Papa ist natürlich nach dem Feierabend sofort aufs Motorrad, um das herrliche Herbstwetter noch auszunutzen. Am Samstag telefonieren wir miteinander. Bis dahin, lass es dir gutgehen!
Mama

Unknown hat gesagt…

nachricht erhalten
over & out

Anonym hat gesagt…

hey jörg!
leider ist bei mir gerade das gegenteil von katharina aktuell, d.h. ich habe extrem wenig freizeit!
deswegen kam ich erst heute dazu, deinen bericht vollständig zu lesen!
freue mich für das, dass es doch augenscheinlich eine schöne aufgabe in wolgograd ist!
dir noch viel spaß, und beantworte mir bei gelegenheit meine mail mal ;)
so, ich wälz jetzt mal weiter das HGB^^
Grüße von der Weser,Volker

Jörg hat gesagt…

So, danke an alle die so geschrieben haben und auch an die Erdfrau (die weiss schon wie das gemeint ist, konnte mir diesen Charmesanflug noch gerade ins Gesicht reiben). Ich will morgen mal sehen, ob ich nicht mal was neues Interessantes schreiben kann.
Bis denne


Schorse