Es ist mal wieder viel Zeit ins Land gegangen, viel Wasser die Wolga hinuntergeflossen, seitdem ich das letzte Mal einen Eintrag geschrieben habe. Wie es sich so häufig fügt, hatte ich mit einigen Motivationsschwankungen zu kämpfen, die mich ständig davon abhalten konnten mich an den Laptop zu setzen und einfach drauf los zu tippen. Zum anderen ist vieles einfach nur noch Bekannt und gleichzeitig schwer näher zu bringen, wenn man es mit den eigenen Augen nicht sieht. Nun habe ich allerdings scheinbar allen Unmut überwunden und suche ein oder zwei Themen, über die ich wieder referieren mag.
Da ist zum einen das Osterfest, von welchem ich noch nichts berichtet habe. Die am schlimmsten anstrengende, entkräftende Zeit des katholischen Kirchenjahres ist auch in Russland ein Genuss für jeden Teilzeit-Masochisten. Es fing alles mit einem Aschermittwoch an, wie wir ihn auch aus Deutschland kennen: Abendmesse, Hinweise auf Verzichtmöglichkeiten, Aufrufe zu regelmäßigem Kirchenbesuch und Ruß auf der Stirn. Das blöde hier ist nur, dass alle darauf achten was und wie viel man im Nachhinein die ganzen 40 Tage durch fastet. So gab es für jede Zigarette, für jede Coca Cola Stress und Nerventerror, für Essen im Café sogar einen beachtlichen Rüffel, der sogar durchaus ernst gemeint war. Zum großen Finale hin kamen dann noch die großen Messen (Gründonnerstag bis Ostersonntag) dazu, in denen meine Nervenbahnen einen Superstau auf allen Straßen aufgrund ungekannter Überbelastung durch unsinnige, unstrukturierte Predigten und der gleichen meldeten. Eine wahre Meisterleistung, dass ich ständig alles wegdrücken konnte und nicht in Depressionen oder Ausbrüchen versunken bin. Allein die Auferstehungsmesse dauerte vier Stunden, die wirklich über die Grenzen der Belastbarkeit hinausgehen können. Als dann alles geschafft war, konnte ich mir dafür aber auch wieder beruhigt alles gönnen, was mir Spaß macht und worauf ich Lust habe. Gleichzeitig kam endlich der lang ersehnte Wetterumschwung, der einen aus der kargen Schale des Winters hinaus reißt und mit warmen Strahlen verschiedenster Farben die Lebenslust wachruft.
Im Garten haben wir nun begonnen die ersten Pflanzen zu setzen, neue Beete anzulegen und auch endlich mal unseren Wagen gewaschen. Der arme Zobel war den ganzen Winter über nicht gepflegt worden und sah aus wie frisch aus der Unterwelt durch allen Urschleim und alle Gezeiten gezogen. Nachdem Jura und ich ihn allerdings ordentlich abgeduscht hatten war er durchaus wieder präsentabel. Bis der Alte sich vor drei Tagen überlegt hatte den Schornstein weiß zu streichen, wobei ihm etliche Tropfen auf den Transporter geplatscht sind und ihm nun eine Taubenscheiße-Camouflage verpasst haben, die ihn im Käfig unserer lebenden Friedenssymbole sicherlich unsichtbar machen könnte. Leider wird die Karre nie in den Genuss dieses zweifelhaften Vorteils kommen. Bemerkenswert ist auf jeden Fall auch eine weitere Neuerung in unserem Fuhrpark: Die russische Klapperkiste ist nicht mehr das einzige Fortbewegungsmittel, welches unsere Gemeinschaft von A nach B durch die dschungelartigen Schlaglöcher der staubbedeckten Seitenstraßen unseres Zigeunerviertels bringt. Ihm zur Seite steht nunmehr ein kleiner Motorroller, mit dem ich häufig mit Jura zum Kiosk fahre, um uns nach getaner Arbeit ein Bierchen zu gönnen. Gerade weil der Gute meist schon zwei drin hat, wenn wir unser röhrendes Ungetüm besteigen, sind die Fahrten durchaus interessant, da Zwischenstopps in Matschpfützen, in denen sich eine Lache Regenwasser mit Benzin und Hausabfällen noch wacker vor dem Austrocknen hält, oder metertiefen Schlaglöchern nicht selten zu kleinen Abenteuern aneinanderreihen. Ein geradezu kryptisches Rätsel tut sich mir jedes Mal auf, wenn Jura den einzigen nennenswert großen Stein auf der Straße mitnimmt, wenn wir eigentlich mit Leichtigkeit drei oder vier Meter um diesen herum hätten zirkeln können. Nichtsdestotrotz kommen wir aber immer an unserem Ziel an und so sitzen wir dann hinterher immer an unserem großen Tisch auf der Terrasse, trinken Bier, rauchen, essen Trockenfisch und spielen Nardi. Abends ist es mittlerweile sogar noch so warm, dass man sich beruhigt auch noch den Sonnenuntergang ansehen kann, bis es dann ins Haus geht, um das Essen vorzubereiten.
Bei der Caritas sind leider im Moment weniger rosige Zeiten angesagt, da den Babuschkas am Caritaswagon wohl jemand gesteckt haben muss, dass ich nur noch drei Monate hier sein werde, wonach sie wieder für einige Zeit alles allein machen dürfen. Auf jeden Fall werde ich nun ständig gebeten eine ganze Stunde früher zu kommen, nur um ein paar Teekannen über eine Straße zum Wagon zu schleppen und Gartengeräte an die Obdachlosen auszuteilen, was die Alten auch noch gerade allein machen könnten. Ich sitze danach nämlich immer 50 Minuten, bis der Wagen mit den Lebensmitteln kommt, gelangweilt in der Gegend herum. Im Grunde würde ich mir dafür ja etwas zum Lesen mitnehmen, aber die Nicht-Beachtung für die arbeitenden Jungs ist mir eine zu große Provokation. Mitarbeiten wäre eigentlich auch ein Mittel die Langeweile zu vertreiben, aber man muss wissen, dass das erstens die Babuschkas nicht erlauben würden, wenn ich mir „die Finger dreckig machen würde“ und außerdem die Arbeit für die Jungs nur da ist, um sich einen Extra-Piraschok zu verdienen. Würde ich dort mit anpacken, wäre bald kein Müll mehr da, den man aufräumen könnte – also lass ich das lieber. Bleibt also die Langeweile durch das morgens so willkommene Fallenlassen in tiefe Gedanken, die bis in einen Tagtraum hineinreichen, zu ersetzen, was mir allerdings durch das hohe Geschrei und nervtötende Gejaule einer Valentina Borisovna zerstört wird und mich wieder in meine Urlage versetzt: Jörg tigernd neben dem Wagon, Jörg zum zehnten Mal die Teller durchzählend, Jörg nach dem Wagen Ausschau haltend, Jörg in Langeweile gefangen. Zumindest eine neue Beschäftigung konnte ich mir zueignen: Ich darf endlich die Schreibarbeit übernehmen. Jeder Obdachlose, der eine Portion in Empfang nehmen will, muss sich registrieren lassen. So kann ich zehn Minuten lang mit dem auferlegten Mundschutz und den unglaublich seriösen Latexhandschuhen durch die Wildnis der Wagonumgebung laufen, um jeden der Kumpels nach Haus-, Vater- und Vornamen zu fragen.
Im Kinderzentrum ist im Grunde alles in Ordnung. Erst gestern haben wir endlich zwei ewige Störenfriede rausgeworfen, die mit lauten Beschimpfungen in bester Affenmanier das Gelände ein letztes Mal verließen. Da ich die beiden sowieso schon in jeglicher Weise aufgegeben hatte, war es mir, um ehrlich zu sein, auch nicht besonders schade. Zuletzt kamen sie nur noch zum Essen, um hinterher sofort wieder auf Streifzug zu gehen: Rauchen, Trinken, nach Mädchen gucken. Das Gesicht ständig in Zornesfalten, pausenlos schreiend wäre Mitleid über einen „Verlust“ wirklich fehl am Platze gewesen. Dagegen macht das Basketballspielen nun, da es draußen fast ständig über 20 Grad sind, besonders viel Spaß und bringt einen weiteren gefestigten Programmpunkt in jeden Tag. Immer häufiger nehmen nun auch andere Jungs meine Hilfe bei Hausaufgaben in Anspruch und auch wenn ich viel selbst machen muss, weil die Kids einfach mal fast nichts können, macht es mir Freude und Hoffnung, dass eventuell ein wenig hängen bleiben mag. Es ist aber auch nicht gerade Merkmal des russischen Schulsystems, dass es auf Leistung wert legt. Im Grunde ist hier noch viel mehr als in Deutschland das Lernschema „von Arbeit zu Arbeit“ attraktiv. Wenn man halbwegs ordentlich schreibt und ein bisschen Kleingeld für den Lehrer dabei hat, kommen die Noten bestimmt. Ich muss sagen, dass ich es beinahe zum Schmunzeln finde, dass sich in Russland die Korruption sogar bis ins Bildungssystem verbreitet hat. Um gewisse Diplome oder Noten zu bekommen, braucht man nichts zu wissen – wer Geld hat bekommt alles ausgestellt.
Auch im Bezug auf die psychologische Arbeit mit den Kids hat sich einiges getan. Wir treffen uns jeden Freitag, um alle ständig kommenden Kinder durchzugehen, planen Belohnungen und Restriktionen und tauschen Erfahrungen und Beobachtungen aus. Nächsten Montag soll noch mal ein Plantreffen stattfinden, auf dem auch über eventuelle Ausflüge beratschlagt wird, worauf ich mich schon freue, weil ich gern mal wieder aus der Stadt herauskäme.
Ansonsten steht nun schon in gut zwei Wochen der Besuch meines Vaters hier an, auf den ich mich auch schon tierisch freue. Die eine oder andere Überraschung wird es bestimmt noch geben und ich bin schon recht gespannt.
Ich verabschiede mich auf hoffentlich etwas baldiger als beim letzten Mal
Jörg
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9 Kommentare:
Hi,Joerg!Was für einer Schriftsteller bist du? Prima und respekt.Jedes Kleinigkeit wurde bemerkt. Und wievill Poesie.Wegen Bildungsystem,ich hatte Glück ,dass ich alte Lehrer gehabt hatte.Die haben sich nicht verkauft,und gaben uns alles was die wussten.Leider kostaktiere ich einen Fakt,dass heute so überall gibst.Nochmall danke,und wie es versprochen wurde,wir erwarten von dir weitere Berichte.Liebe Grüße. Tatjana
Ja, man hat mir gesagt, dass das System frueher besser gewesen sein soll und etliche trauern dem auch noch nach. Aber was will man machen? Die Zeiten aendern sich mal so - mal so. Ich hoffe, der Brief an dich ist mittlerweile angekommen und nicht in dem Abgruenden der Postwege untergegangen. Ich gedenke wieder etwas zu schreiben, wenn Papa wieder abgereist ist - wobei es eigentlich schrecklich ist darueber hinaus schon wieder zu planen.
Lieben Dank fuer den Kommentar und die Gruesse. Bis dahin alles Gute und Liebe
Joerg
Hallo Joerg!Es tutmirleid,aber ich habe den Brief nicht bekommen.Ich wollte dir anderen Vorschlag anbieten.Ich habe eigene Seite www.odnoklassniki ru.Wenn du einen Spaß hast,sag mir bescheid.Ich sage dir genaue Adresse.Liebe Grüße Tatjana.
Hallo,
hab deinen Blog im Internet gefunden, echt interessant muss ich sagen. Ich und ne Freundin studieren zur Zeit in Moskau und wuerden vom 9.-11.Mai nach Wolgograd kommen. Du weisst nicht zufaellig ne guenstige Unterkunft?
Meine Mailadresse waere weger.denis(at)rolmail.net
Gruss aus Moskau
Dennis
Ich hoffe mal, du guckst hier noch rein, eine Email schaffe ich grade nicht mehr (Internet zu lahm).
Viele Alternativen habt ihr, meines Erachtens, nicht. Man kann im "Wolgograd" oder im "Intourist" recht gut absteigen. In ersterem weiss ich es sicher, da ich dort schon gewesen bin - letzteres soll nach Berichten anderer mindestens gleichwertig sein (gibt es aber bei Buchung aus Deutschland haeufig Probleme seit etwa einem Jahr). Ansonsten kann man auch noch in das "Jugendhotel" (auf lateinisch kodiert etwa: "Gostiniza malodjo5naja" oder so aehnlich. Das befindet sich ebenfalls nicht weit ausserhalb des Zentrums und mag noch guenstiger sein. Zur Not wird man wohl noch vor Ort etwas kriegen koennen, wenn ihr das riskieren wollt. Die Hotels scheinen mir alle nicht voll zu sein, aber ich weiss nicht, wie das ueber die Maifeiertage werden wird
Joerg
Hallu!
War vor ein paar Tagen im StudiVZ unterwegs und haben erleichtert festgestellt, dass das Jörg immer noch genauso beeindruckend kaputt und lebendig oder auch auch einfach nur menschlich aussehen kann wie eh und je. Gut zu wissen... :)
Hier bricht gerade der Frühlich... um nicht zu sagen Sommer durch und alle anfallende Arbeit wird einem durch zwei bis siebe Sonnenstrahlen leichter gemacht!
Liebe Grüße und bis bald mal wieder!!
Das Ermann
Jo Jo Joerg ! :-)
Bin hier mal wieder vorbeigesurft und habe wie immer mit Freude deinen Bericht durchgelesen. Klasse Stil und klingt alles sau interessant ! Freu mich schon drauf, dich hier wieder begrüßen zu können, am 21.6. ist Maigang, schaffst du es bis dahin ? Wäre voll geil, dann können wir wieder ne runde bolzen ^^
Liebe Grüße und weiterhin viel Spaß !
Danke Kinder, fuer die Bluemchen und die Nachrichten vom Ancor/Erdman.
Ich schaffe das zum Maigang leider nicht, aber da solltet ihr euch ja auch nach Clausi und nicht nach mir richten ;)
Ich komme dann am 15.07. wieder ins hoffentlich nicht so schlimm verregnete Deutschland. Hier haben wir heute mal nette Schauer, was etwas Heimatfeeling macht.
LECKER!
Joerg
hallo bruderherz =)
Na, alles klar bei dir?
Surf hier grad so im I-net rum...finde leider grad nicht die Motvation mich über meine Schulbücher zu hängen.
Lg, Ruth =)
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