Donnerstag, 6. März 2008

Russland zur Halbzeit

Wie sieht mein Alltag nach fünf Monaten aus? Ist die Welt um mich herum noch die gleiche wie bei meiner Ankunft? Bin ich „angekommen“, um diesen pädagogischen Ausdruck noch einmal zu bemühen?
Nachdem nun die Hälfte meiner Zeit hier in Russland aller Planung nach wohl schon um ist, wird es Zeit ein Zwischenfazit zu ziehen. Sicher ist Russland nicht mehr so geheimnisvoll, so völlig anders, so zum-Erkunden, nicht jede Ecke schreit nach einem zweiten Blick, nicht jede Geste fordert ihre Erklärung. Die Sprache, die Menschen sind bekannt geworden, Orte zur Gewohnheit, zur Alltäglichkeit, zu Vertrautem. Ich kann nach Hause kommen und weiß, dass es in einer Stunde Abendessen geben wird. Ich weiß, dass jenes wohl aus Makkaroni, Pizza, Kartoffeln mit Würstchen oder mit Kartoffeln gefüllten Teigtaschen bestehen wird. Ich weiß, dass ich um 8:30 Uhr aufstehen kann, wenn ich nicht duschen will, um noch schnell meinen Griesbrei runter zu bekommen, bevor ich in die Maschrutka muss, um zum Caritas-Wagon zu fahren, ich weiß, dass wenn ich eine Viertelstunde zu spät zur Haltestelle komme, wir mit dem Sammeltaxi in der Rushhour Wolgograds an der Brücke neben dem Bahnhof hoffnungslos zum Stehen kommen werden. Ich kenne alle Beschäftigten des nächstgelegenen Petjoritschka-Marktes, weiß dass, wenn Ruslan abends nicht grüßt, er wieder seine „Phase“ hat, und habe auch die beste Stelle für eine Maschrutka aus dem Stadtzentrum ausgemacht. Ich kann mich eine Woche lang durch die Stadt bewegen und mit Ausnahme der Kassiererinnen in Supermärkten und der Maschrutkafahrer nur mit Leuten sprechen, die ich schon recht gut kenne.
Heißt das, mein Leben hier ist langweilig geworden?
In gewissem Sinne wird man sicher sagen „ja, ist es“, weil es durchaus mehr Bekanntes als Unbekanntes gibt, weil Routine und Alltag keine zuhause gelassenen Begriffe sind, sondern vielmehr ein paar Monate nach mir – in Teilen sogar schon wenige Tage und Wochen nach mir – hinzugeflogen sind. In einem anderen Sinne vermag das Wort aber sich nicht der Situation gerecht zu werden, es ist zu wenig, unfertig, roh und ungenau, geradezu plump. Es hängt der Routine den faden Beigeschmack der Öde an, des nicht mehr Sehens- oder Betrachtenswerten. Sehens- hörens- ja, erlebenswert ist aber nach wie vor alles in Wolgograd. Keine Situation, kein Ereignis kann seinen Wert verlieren, dadurch, dass Teilfaktoren absehbar geworden sind. Vielmehr lädt sie dazu ein, genauer hinzusehen und einen tieferen Blick zu gewinnen, die Aufschlüsselung, Dechiffrierung des „What’s Behind the Curtain?“, denn hinter einer jeden Geste versteckt sich ein Stück Kultur, welches noch längst nicht erreicht ist, wenn die Geste routiniert, normalisiert worden ist. Die Geste muss kategorisiert werden, zwingt nach einer Sinnsuche, die immer wieder spannend sein kann. Ein Beispiel:
So wie es anfangs schien, sind die Russen ein sehr geselliges Völkchen. Es wurden mir immer eifrig Händchen ausgestreckt, Gesundheit gewünscht zur Begrüßung, meist sogar wenn man sich nicht kannte folgte eine herzliche Umarmung. Das schien alles sehr freundschaftlich hier abzulaufen. Man begegnet sich wie unter Brüdern, nicht selten wird auch dieses Wort benutzt.
„Super“, habe ich mir gedacht, „soviel Herzlichkeit, da wollen wir doch nicht geizen und zur Gegenoffensive blasen!“ Gesagt, getan begann ich also eifrig Hände zu schütteln und zu umarmen. Alles und jeden habe ich herzlich, laut und derb begrüßt. Kam anfangs auch alles ziemlich gut. Genau genommen auch jetzt noch, bis auf die eine Situation, die sich dreimal in der Woche abspielte, wenn ich ins Kinderzentrum kam und auch Elena und Ina die Hände fest drückte, nachdem ich mit einem lauten „Здорово!“ eingetreten war. Da sahen mich einige Kinder immer ein wenig hilflos-verwirrt an. Vor einiger Woche hat man mich dann aufgeklärt: Frauen darf man auf keinen Fall auch nur die Hand drücken. Das ist völlig unschicklich und „geht gar nicht“. Klar ist mir Russland auch schon vorher als „Great Empire“ des Machotums bekannt geworden, aber das wusste ich noch nicht. Bei Begrüßungen sind Frauen so zu sagen zweiten Ranges. Man darf ehrfurchtsvoll die Hand ergreifen, wenn die Dame sie einem hinhält, umgekehrt allerdings nie die seine anbieten geschweige denn, dass man eine Frau ähnlich herzlich mit „Schwester“ grüßen würde, wie man einen Kerl mit „Bruder“ ansprechen darf. Kurioses Land könnte man denken und es damit auf sich ruhen lassen. Dann fiele wirklich die erlernte Geste in die blanke, langweilige Routine. Geht man allerdings weiter, sucht nach Parallelen in anderen Situationen, verknüpft Verhaltensweisen miteinander, so kommt man zu einem interessanten Gesamtbild, welches allerdings fast nie stehen bleiben kann, sondern aufgrund seiner Fülle ewig-progressiv bleibt.
Eigentlich sollte dieser Bericht länger werden, aber irgendwann ist mir die Power ausgegangen, man verzeihe mir.

8 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Es sei dir verziehen, mein Lieber! ;)
Ich dachte schon, du seist zwischenzeitlich von einem Schnneerutsch begraben worden oder hättest dich von einem Maschrutkafahrer totreden lassen!
Umsomehr freut mich nun zu sehen, dass Herz und Geist des jungen Adoptivrussen immer noch emsig arbeiten!
Hier rotiert auch einiges, wenn sich doch äußerlich scheinbar nichts bewegt...das sind doch die intensivsten Zeiten!
Genieße du, die dir verbleibende, den Blick in den tieferen Grund gerichtet und lass uns gerne weiter an deinem Erleben teilhaben!
Herzliche Grüße!!
Die Erdmann

Anonym hat gesagt…

Hallo Joerg!Schön von dir wieder was zu hören.Du lebst und atmest noch,das ist gut. Danke für die "beißige" Berichte,sie waren klasse.Manche Sitten in Russland finde ich sehr interessant,wegen Frauengrüßung habe ich noch nicht begegnet(???).Ah,übrigens,diese Woche in Russland heist"Masleniza"-
Verzeiungswoche.An der Woche muuss man die Pfannenkuchen backen.Schöne Grüße!Tatjana.

Jörg hat gesagt…

Ich weiss, die Woche hat ja schon mit dem Sonntag des Verzeihens angefangen, was ich sehr ulkig fand, als unser blinder Opa in die Kurilka kam und meinte: Marco, verzeih mir fuer alle meine Suenden, bljad (soviel wie Arschloch). Das hat der einfach so drin, staendig dieses eig. Schimpfwort zu benutzen, dass er selbst in der Situation nicht darum herum kam. Ansonsten habe ich aber nicht viel mit dem Versoehnungskram zu tun, da ich schliesslich nicht orthodox bin und die meisten meiner Bekanntschaften hier ebenso wenig.
Auf die Pfannkuchen freue ich mich aber schon - eventuell lade ich mich dann nochmal bei einem der Kids aus dem Zentrum ein, damit ich dann von den Hausgemachten mitessen kann... (oder auch nicht).
An den Erdmann natuerlich seien die besten Gruesse gerichtet, sie sei versichert, dass ich maulwurfartig-artig grabe und mich - trotz allem was mir hier lieb ist - wieder auf die Heimat freue. Beste Wuensche an alle


Ich

Anonym hat gesagt…

Hallo Joerg!Es geht nicht,ob du Vehrzeiungskram hast oder nicht.Es handelt um den russischen Sitten, die du kennenlernen wolltest(entschuldige mal).Ich bin wirklich froh, dass du gute Kontakte zu russen hast,dass du russische Kultur nähe begegnen würdest(besonders Pfannenkuchen mit der Füllung sind lecker).Ich wunsche dir alles gute.Ich hoffe, dass du nicht nur die Schimpfwörta dort gelernt hast(Die sind nicht gut.Ich mag sie selbe nicht).Ich lese deine Berichte gern,besonders Kommentar;).Tatjana

Anonym hat gesagt…

Pfannkuchen haben wir keine mehr bekommen, da alle orthodoxen Mitarbeiterinnen auf einem psychologisch angelegtem Anti-Stress-am-Arbeitsplatz-Training waren. Dafuer hatten wir aber Palmsonntag mit Weidenkaetzchen anstatt Buchsbaum - auch nett. Nur anstrengend zu finden waren die Dinger, da die eigentlich erst zum orthodoxen Fest zu haben sind, was in diesem Jahr vier Wochen spaeter ist. Aber unsere Geistlichen hatten vorgesorgt, so hatten schliesslich alle etwas zum Winken. Da faellt mir gerade ein: Nur noch drei Tage bis Ostern. Ich muss noch schnell ein paar Sachen erledigen...



Joerg

Anonym hat gesagt…

Hallo,Joerg!Scnon lange haben wir von dir nicht gehört.Ich denke in Russland mit dem Winter ist schon lange vorbei.Schreib mal weiter und vergrabe dein Talent im Schnee nicht.;) Tatjana.

Anonym hat gesagt…

Nein, der Winter ist wirklich schon lange vorbei. Demnaechst gibt es wieder einen Bericht ueber die schoenen Fruehlingstage Wolgograds. Versprochen.
Liebe Gruesse



Joerg

Anonym hat gesagt…

Wir freuen uns drauf...