„Die klebrigen Banditen“, die Hexe aus „Hänsel und Gretel“ und ich haben manchmal eins gemeinsam – wer errät ’s?
Richtig! – Kinder. Hin und wieder können einem die lieben Zwerge schon wirklich auf die Nerven gehen. Entweder werde ich einen ganzen Nachmittag damit belagert, was verschiedene Schimpfwörter auf Englisch, Französisch oder Deutsch heißen oder die Kinder wollen wissen, ob ich Prostituierte kenne oder sie aufsuche. Wenn ich ganz viel Glück habe, bekomme ich auch mal ein Pornovideo auf einem Handy vorgespielt. Dass da schon mal ein Tag als „gelaufen“ abgehakt werden muss, braucht man wohl nicht weiter zu erläutern: Gerade wenn man denkt, dass man einen Schritt geschafft hat, beweisen einem die Kleinen auf grandiose Art das Gegenteil. Auch in anderer Hinsicht laufen die Kinder im Winter Amok: Da wird in der Mensa eine Schneeballschlacht angezettelt oder herumgeschrieen oder ein Stuhl umgeworfen, weil man nicht sofort seine Suppe bekommt. Da sie das aber natürlich nie hundertprozentig bösartig meinen, scheue ich mich bisher nur noch ein wenig wirklich mit beiden Händen dazwischen zugehen, auch wenn Elena und Ina das ganz gern sehen würden, wie mir scheint.
Es gibt aber auch wirkliche Entwicklungen zu erzählen, die mich durchaus stolz machen. So war ich vor kurzem sowohl bei Slava als auch bei Sergej zuhause eingeladen. Slava wohnt im Grunde gar nicht so schlecht. Er lebt mit seiner Mutter in einer kleinen Wohnung in einer der Hinterlassenschaften der Sowjetära – dem Plattenbau. Dort gibt es ein Badezimmer, eine Toilette, eine Küche, sowie ein Zimmer für Slava allein und eines für seine Mutter. Wenn man eintritt, steht man sogar noch zunächst in einem kleinen Flur mit Garderobe und Telefonschränkchen. Klar, die Mutter arbeitet wohl jeden Tag von früh morgens bis spät abends und Slava spielt viel Computer und sieht eine Menge fern (sowohl PC als auch Fernseher hat er auf seinem Zimmer), aber er ist eigentlich ein guter Junge. Er sucht sich eine eigene, ordentliche Perspektive. So geht er regelmäßig zum Kung-Fu, wo er schon einen weißen und einen schwarzen Gürtel erworben hat. Von seinen Tricks hat er mir natürlich auch direkt ein paar vorgeführt: Kicks in die Luft, turnen an der Stange oder auf Einmachgläsern durch die Gegend laufen. Slava kennt sich ganz gut aus. In einer Runde Counterstrike habe ich ihm dann gezeigt, dass ich noch nicht ganz so eingerostet am Zeigefinger bin. Danach habe ich noch die Bekanntschaft seiner Katze gemacht (schneeweiß und sehr sympathisch – gibt keinen Laut von sich).
Im Vergleich dazu gibt es bei Sergej nicht so viel Raum. Der Junge wohnt mit seiner Mutter in einer Kammer, die so groß ist wie die Küche bei mir zuhause in Deutschland. In den so genannten „Herbergen“ geht es zu wie bei uns in Jugendherbergen: Jede Familie hat einfach ihr eigenes Zimmer – mehr nicht. Gut, kann man sagen, es geht allerdings noch schlimmer als bei Sergej, wenn beispielsweise drei Kinder mit ihrer Mutter leben (alle von verschiedenen Vätern) und auch ein Mann noch in dem Raum schläft, der aber wiederum von keinem der Kinder der Vater ist. Da kommt nachts sicher Freude auf, wenn es darum geht wer wo schlafen soll, denn durch flüchtiges Überschlagen hätte ich gesagt, dass selbst auf dem Fußboden nicht für alle Platz wäre. Nun, Sergej hat sein eigenes Bett, aber dafür ist seine Mutter auch die einzige Person, die für Geld sorgt, was natürlich an allen Ecken und Kanten sichtbar und ihm ein wenig peinlich ist. Gekocht und geduscht wird im Übrigen gemeinschaftlich auf dem Flur. Aber zurück zu meinem Besuchstag. Es wurde sehr lecker aufgetischt (Russische Waffeln mit selbst gemachter Marmelade und Tee), hinterher sind wir Rodeln gegangen und haben schließlich ein wenig ferngesehen, Hausaufgaben gemacht und ich habe mich mit der Mutter über dies und jenes unterhalten. Sie hatte einmal eine Brieffreundin in Deutschland, sagte sie. Nachdem diese aber umgezogen sei, hätten sie sich nicht mehr geschrieben, wobei sie so gern wissen würde, wie es ihrer Bekanntschaft jetzt geht. Besonders in den letzten zwanzig Minuten, die ich mich mit der Mutter unterhielt, bemerkte ich, wie stark ihr Mitteilungsbedürfnis war. Wenn ich zur Uhr sah oder kurz einwarf, dass ich eigentlich schon lange wieder hätte fahren müssen, wurde schnell wieder ein anderes Thema ausgegraben, betont, dass ich für den ganzen Tag eingeladen sei, Tee eingegossen oder auf etwas hingewiesen, sodass ich doch noch ein wenig bleiben sollte. Was Mut macht ist, dass Sergejs Mutter trotz allem noch nicht aufgegeben hat zu hoffen: Auf eine eigene Wohnung in einem der Außenbezirke der Stadt, auf bessere Arbeit, auf Freunde, die helfen. Sie klagt mit der Bitterkeit der Rechtfertigen, wenn sie betont, wie Bekannte zu Geld gekommen sind – schmutzigem Geld, aber eben genug, um ein Haus zu bauen, um etwas aus ihrem Leben zu machen. Fast mit schlechtem Gewissen nahm ich dann zum Schluss eine Tüte voller Waffeln, die ich nicht aufbekommen hatte, mit und verabschiedete mich von den beiden. Da ich bereits die nächste Einladung zu einem Tag meiner Wahl in der Tasche habe, denke ich, dass ich die über kurz oder lang sicher noch mal besuchen werde, um dann ein bisschen mehr mitzubringen als Milkaschokolade, auch wenn sie sich darüber schon sehr gefreut haben.
In den nächsten Wochen werden wir eine große Sportaktion starten, wenn ich das richtig verstanden habe. Ob ich mich da so sehr engagieren werde, bleibt aber noch mal abzuwarten, da ich bei minus 20 sicher nicht Fußball spielen werde.
Das soll’s erstmal gewesen sein, liebe Grüße an alle, die das lesen und ich hoffe, ihr seid gut ins neue Jahr gekommen.
Jörg
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3 Kommentare:
Freues neue Jahr,Jörg!Das ist wundebar,dass du mit so einer guten Gesellschaft nicht so tief ins neue Jahr gerutscht bist.Ich hoffe,dass so weiter bleibt.Spaß muss sein!!!Jörg, sind die Kinder in deiner Gruppe aus verschiedenen Ebenen kommen?Du brauchst dich nicht so viel den Kopf zebrechen,du
machst wirklich viel und toll.Eder Mensch muss allein seinen eigenen
Weg gehen. Tatjana
Bin mal gespannt, wann der Brief ankommt, aber losgeschickt ist er.
Lieben Gruß,
Michael
Danke fuer die Wuensche zum neuen Jahr und die munteren Worte.
Michael, Briefe brauchen hierhin meist so zwischen zwei und drei Wochen. Auch schon mal danke dafuer.
Byebye!!!
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