Donnerstag, 10. Januar 2008

Von Bäumen mit Make-up und hektischer Hektik

Sonntag. Das ist Kirche. Das ist um 9:30 Uhr aufstehen, um noch schnell das Haus zu wischen, bevor man sich duscht und die Zähne putzt, irgendwo dazwischen frühstückt und dann ins Stadtzentrum fährt. Das ist schöne braune Halbschuhe einmal in der Woche vor dicken schwarzen Betontretern vorziehen dürfen, weil man nur ganz kurz in der Kälte steht. Das sind etwa 35 Minuten Predigt über die Schlechtigkeit des Menschen und den ständigen Sündenpfuhl. Das ist mit Anatoli zur Kommunion gehen. Das ist Pjelmini zum Mittag. Das ist ein kaum endender Nachmittag in gammeliger Langeweile. Sonntag ist abends kein South Park und kein guter Spielfilm.
Aber ein Adventssonntag sollte doch anders sein. Er ist ja schließlich kein „normaler“, kein Durchschnittssonntag. In Deutschland ist er das auch nicht. Da wird Sonntag zu besonders thematisiertem Sonntag. Da gibt es Wichteleien und Weihnachtstreffen von verschiedenen Vereinen, da wird schon überlegt, was man zu Weihnachten verschenken kann und Schmuck aufgehängt. Das Rot und Grün prangt einem entgegen: „Bald ist Weihnachten“ ruft jeder Schokoladen-Nikolaus, der epileptisch-leuchtende Weihnachtskitsch in den Fenstern und manchmal auch eine zarte Schicht von himmlischem Weiß. Wenn es letzteres nicht gibt, lässt man es sich zur Not durch tausend andere Möglichkeiten anzeigen.
In Russland sieht das anders aus. Sicher kann man sagen, dass das damit zusammenhängt, dass hier viele Menschen orthodox sind und daher in der Adventszeit noch nicht soviel in Richtung Weihnachten geschieht und dass für die Russen das Neujahrsfest wichtiger ist als Weihnachten im Allgemeinen. Aber das nimmt der Situation den Reiz und die Realität. Denn als jemand, der das Weihnachtsfest bis in die Tiefen der kapitalistischen Vermarktung hinein jedes Jahr erlebt hat, bietet sich ja nicht zunächst der Grund für den Unterschied, sondern der Unterschied selbst dar.
Hier findet man keinen Schmuck in den Fensterläden, keine mit tausenden von Glühbirnen beleuchteten Straßen oder ein verzeichnenswertes Aufkommen roter Zipfelmützen. Nur die Coca-Cola-Werbung ändert sich zu Weihnachten auch in Russland. Sonst bleibt alles gleich. Die Kälte bleibt kalt. Schnee und Eis bekommen hier einfach keine Kamin-Romantik. Im Gegenteil laden die Temperaturen eher zum Fluchen ein und wenn man nach einem Arbeitstag nach Hause kommt, ist man nur noch erschossen und will ins Bett.
So kann man eigentlich mit Fug und Recht behaupten, dass wir hier eine richtige Adventszeit gar nicht gehabt haben. Zumindest keine, wie ich sie aus Deutschland kenne. Dafür aber hatten wir auch kaum gezwungen-lustige Atmosphären bei Weihnachtstreffen, die eigentlich jedem zuwider sind, keine Geschenke-Last-Minute-Einkaufen-Hektik oder Besinnlichkeitsfassaden in Form von Massen an gekauftem Rot und Grün. Einmal von dieser Perspektive betrachtet, verliert der verlorene Advent seine Attraktivität und es ist gar nicht so schlecht, ihn mal so zu erleben: Simpel und entzaubert. Oder echt und ohne Kitsch. Ich stimme eher letzterem zu.
Gut, ganz ohne Kitsch sind wir dann doch nicht ausgekommen. Ohne den Geschmack meiner Mitbewohner beleidigen zu wollen – die Tanne, die immer noch in unserem Wohnzimmer steht, ist echt mal hässlich. Da hängen mehr Kilogramm Plastik-Nadeln als echte dran und die Lichterkette ist bunt und blinkt. Scheint sich allerdings wohl um russisch-typische Modeverirrungen zu handeln. So sieht man beispielsweise auch in der Kirche Entwürfe eines Glamour-Trees, der möglichst abwechslungsreich aufleuchtet und mit Tonnen irgendwelchen Mülls behangen ist. Die Krippe im Gotteshaus sollte zunächst sogar einen Springbrunnen beinhalten, worauf ich fast scherzhaft bemerken wollte, ob wir nicht auch ein paar Palmen drum herum und Fische in einen Teich platzieren sollten. Mir ist aber noch rechtzeitig eingefallen, dass jemand den Vorschlag ernst nehmen könnte und habe somit noch die Klappe gehalten.
Das Neujahrsfest ist hier dafür der ganz große Renner. An keinem anderen Tag wird wohl so viel Geld für Essen und Alkohol ausgegeben wie an Sylvester. Wir haben das Fest ganz beschaulich verbracht. Vor- und nachmittags haben wir uns ausgeruht, abends dann erstmal sehr gut gegessen. Marco hat erst Kanapees vorbereitet, dann italienische Bandnudeln mit Pilz-Rahmsoße und schließlich Erbsen mit Speckstücken und Hühnchen. Interessant war, dass man uns so gegen sechs Uhr den Strom abgedreht hat, sodass das ganze Abendessen im Kerzenlicht stattfinden musste. Die nächsten drei, vier Zigaretten wurden auch noch im Schein einer Laterne geraucht, bis wir dann zu Davor rüber gegangen sind, um dort weiter zu feiern. Dort hatte sich über die Feiertage Alberta aus Elysta mit den Kindern ihres Hauses einquartiert. Auch wir hatten Besuch. Bahira war aus Moskau angereist und Miriam kam aus Petigorsk. Wer erstere ist müsste ich eigentlich schon mal geschrieben haben. Miriam war vor ein paar Jahren die erste Bistumsfreiwillige in Astrachan und studiert nun in Petigorsk Russisch und Polnisch, um Dolmetscherin zu werden. So waren wir schließlich eine ganz schön große Truppe im Suchtprojekt. Von den Jungs haben natürlich auch alle kräftig mitgefeiert. Ständig gab es etwas zu spielen: Entweder musste man einen Apfel essen, der an einem Faden hing, während man seine Hände nicht gebrauchen durfte oder man musste in einem Kartenspiel Tiere mimen. Um zwölf Uhr gab es dann auch ein kleines Feuerwerk draußen auf der Straße. Hinterher waren wir dann noch ein wenig bei Davor (wo ich mir dann auch noch die ganze Hose eingenässt habe bei einem dieser Spiele, was dem Sternegucken recht nahe kommt. Außerdem musste ich noch „Griechischer Wein“ performen – Volker, ich habe das würdig hinbekommen – und mit Tonja, einem von Albertas Kids mit Down-Syndrom, tanzen). Danach sind wir dann nach Hause gestiefelt, um uns für die Nacht umzuziehen. Aus einer Diskonacht ist aber schließlich nichts mehr geworden, da die Eintrittspreise im Zentrum nicht mehr normal waren (1700 Rubel, etwa 50 Euro) und so sind wir schließlich zuhause geblieben, haben noch bis vier Uhr die Zigarettenschachteln unsicher gemacht und sind dann Richtung Bett verschwunden. Ein bisschen hat mir natürlich an Sylvester der Thrill von ein paar Gläsern Whiskey, Gin und Co gefehlt, das Abhängen mit Leuten, die man schon lange kennt und die dusseligen Aktionen, derer man sich teils selbst erinnert und derer man teils erinnert werden muss. Den Flickenteppichen aus unterschiedlichen Blackouts wieder bei einer Pizza und einem Konterbier am nächsten Nachmittag zu rekonstruieren hat mir immer fast so viel Spaß bereitet wie der Abend selbst. Hier war das Fest ruhiger, aber nicht unbedingt schlechter. Vor allem unter gesundheitlichen Aspekten.
Da ich gerade in Fahrt bin und noch ein wenig hier im Haus herumhängen muss (Erkältung), werde ich mich mal an die nächste Runde begeben.

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