Mittwoch, 17. Oktober 2007

Zwei Deutsche und zwei Tage – zwei große Frauen und zwei Erlebnisse

Am Wochenende war es endlich soweit: David ist aus Astrachan zu Besuch gekommen. Früh morgens um acht Uhr ging es mit dem Auto zum Bahnhof, wo ich einen ziemlich übermüdeten (nach zehn Stunden Bahnfahrt) und recht hilflos dreinblickenden Freiwilligen aus der Eingangshalle abholte. Danach ging es erstmal auf den Fischmarkt, um neue Angelsachen für Jura zu kaufen und nach Hause, wo David sein Zimmer beziehen konnte. Ohne weitere Umschweife nahmen wir dann die nächste „Maschrutka“ ins Zentrum. Dort konnte ich dann erstmal meine Fähigkeiten als Touristguide unter Beweis stellen. Leninstatuen, das große Theater, das Rathaus und meine Uni, das Panorama-Museum und die Hauptstraße wollten besichtigt werden. Als wir uns schließlich niederließen, um uns ein paar fettige „Kottleti“ reinzuschieben (Hühnchenfleisch mit Pilzen und Käse in einem Panademantel) und schließlich eine Zigarette rauchten, um dem Tag das richtige Doping zu geben, wurden wir pronto von einer äußerst voluminösen Dame angesprochen, die wohl auch nach einem Glimmstängel trachtete. Bereitwillig kramte ich eine Marlboro hervor und übergab sie in die speckigen Pfoten der Passantin. Als ich nun die darauf folgende Frage nicht verstand, sah ich mich prompt wieder in der Not erklären zu müssen, dass ich Ausländer sei und fragte höflich, ob sie denn Englisch spräche. Und wie es der Zufall, „der alte Satansbraten“, so will, konnte sie recht gut und fast akzentfrei Englisch sprechen. Und wie. Sie hörte gar nicht mehr auf zu quasseln und wollte alles über David und mich, unsere Tätigkeit hier, unsere Familien und so weiter wissen. Das ist an sich nicht verwunderlich, sicher, die meisten Russen sprechen nicht mehr als „yes“, „no“ und „I don`t understand“, aber interessiert ist eigentlich jeder an dem, was man so macht. Von daher kamen uns erst dann erste Zweifel an dieser Person, als sie fragte, ob wir nicht etwas über sie erfahren wollten, ich dies bejahte und sie dann fragte warum wir nichts wissen wollten. Schließlich konnten wir sie aber wieder aus ihrer „Beleidigte-Leberwurst-Stimmung“ befreien und sie erzählte über ihr Leben. So gingen dann eigentlich ganz nette zehn Minuten ins Land und ich wollte dann ganz standardmäßig entschuldigen, dass wir nun aber unbedingt noch zur „Mamaef Kurgan“ müssten, da David die Stadt ja noch nicht kennen würde. Mit folgendem hatten wir aber nicht gerechnet: Die sprechende Qualle wollte nun mit uns zusammen die Stadt erkunden. Leicht genervt willigten wir aber dann ein sie mitzunehmen. Kurz vor der Metro dann die nächste Unverschämtheit. Sie hatte gar kein Geld und wollte, dass wir ihr das Ticket bezahlen. Die sechs Rubel teilten David und ich uns dann (sind dann schließlich nur noch circa sieben Cent). Angekommen am Mahnmal ging die Quasselei wieder weiter. Sie sei so stolz auf ihren 14jährigen Sohn, der ja so intelligent sei und sei so glücklich mit ihrem Freund, einem Tauchlehrer für Wolgatouristen und so weiter und so fort. Als wir schließlich an einigen Rekrutinnen der russischen Armee vorbeigingen (davon gibt es fast so viele wie von den männlichen Pendants), fragte uns der Hefefladen doch tatsächlich, ob wir auf Frauen in Uniform stünden, ob wir Sex mit Männern gehabt hätten und erschlug uns fast mit ihrer unglaublich liberalen Einstellung, dass Menschen immer und mit jedem darüber reden sollten. Als ich dann trocken bemerkte, dass es wohl bei jedem selbst läge wann und mit wem er darüber reden wolle kam bewundernd zurück, dass das eine „sehr interessante Ansicht“ sei. Als wir dann an die in Fels gehaunen Rotgardisten passierten bemerkte sie fast beiläufig, dass sie der Meinung sei, der Krieg habe nie stattgefunden und sei eine Erfindung der Politik. Synchrones Wegdrehen seitens Davids und meiner, da uns simultan die Erinnerung an vor Intellekt strotzende Aussagen wie „Hitler hat nicht nur Schlechtes getan“ von Neofaschisten ins Gedächtnis schoss und wir uns an Ufosektenansichten erinnert fühlten. Als ich ihr dann behutsam beibrachte, dass der Krieg bewiesenermaßen stattgefunden hatte und sie doch bitte darüber nun die Klappe halten sollte (manchmal hat Wittgenstein doch recht: „Worüber man nichts weiß, darüber muss man schweigen!“), war das auch kurz für sie in Ordnung. Als wir aber schließlich oben bei der Statue angelangt waren bewegte sich das massige Gesicht wieder, um uns die Freundschaft und zukünftige Treffen anzubieten. Und da schlug wieder der gemeine „Bono“-Gutmensch in mir zu. Ich konnte diesem scheinbar hilflosen Wesen natürlich diese simple Bitte nicht abschlagen und sofort wurden Handynummern getauscht und sie hatte noch die traurige Geschichte von ihrer gescheiterten Ehe zur Belohnung auf Lager. Als sie uns danach wieder mit anderen Dingen auf den Wecker gehen wollte und sich anschickte uns auch den Nachmittag zu stehlen sagte ich dann entschieden, dass wir uns lange nicht gesehen hätten (David und ich) und deswegen nachmittags etwas zu zweit unternehmen wollten. Das schien dann erst in Ordnung für unser Pummelchen mit den verworrenen Ansichten. Eine halbe Stunde später aber ging schon das Handy. Wann ich Zeit hätte um sich zu treffen etc, etc. Einmal mehr danach musste ich sie danach noch abwürgen und hoffe ihr nun klargemacht zu haben, dass ich sehr, sehr wenig Zeit habe, woraus ein normaler Mensch auch entnimmt, dass ich keinen Bock auf ein Wiedersehen habe. Den Rest des Tages zog mich dann ein sehr amüsierter David, der ja aus dem Schneider war, da er von Astrachan aus sich wohl nicht mit ihr treffen konnte, die ganze Zeit mit meiner neuen bärtigen (ja, Unterlippenbart hat sie auch), kugeligen Freundin aus der „Sumo-Ringer-Branche“ auf. Am Abend konnten wir dann aber glücklicherweise nur noch über die eine der beiden großen Damen reden (nämlich die Mutter Heimat) und die andere Bekanntschaft ruhen lassen. Ganz deutscher Standard ließen wir uns dann auf der Terrasse mit Bier und Kippen nieder und haben uns echt mal angenehm über unsere Projekte ausgetauscht. Am Sonntag sind wir dann mal zur Wolga runter und sind auf eine (wenig erfolgreiche) Shoppingtour durchs Zentrum gegangen, da ich unbedingt so langsam mal Wintersachen brauche. Die Winterjacken sind hier allerdings entweder Mäntel, in denen ich ziemlich alt aussehe, Daunenjacken, die mir noch nie wirklich gefallen haben oder noch Herbstware, also für den Winter nicht zu gebrauchen. Abends waren wir dann zu spät am Bahnhof, um David eine pünktliche Heimreise zu kaufen, da alle Tickets schon vergriffen waren. Also musste er wohl oder übel noch einen Abend mit Marco und mir, Chips und Bier (sollte ich Dichter werden?) verbringen. Montagmorgen waren dann der nette Besuch und die angenehme Zeit des Deutschredens vorbei und der Alltag hat wieder begonnen. Wie der aussieht wisst ihr ja mittlerweile auch schon halbwegs aus den anderen Berichten. Ich versuche auch noch mal gern Fotos ins Internet zu stellen, aber werde meist durch Unlust ob des langsamen Internets davon abgehalten und verschiebe das auf den wunderbaren, unbekannten Tag X, an dem ich hier endlich eines „der vielen“ Internetcafés finde. Ich verbleibe in der Hoffnung auf Antworten, darauf, dass ich den „Delete-Knopf“ für die Qualle Anna finde. Bis nächste Woche euer



Jörg

Versorgung für die Ärmsten der Armen

Es ist sieben Uhr morgens. Nach einer schrecklichen Nacht, in der mein Schlaf ständig von Killer-Köter Muktar unterbrochen wurde, geht es mit ziemlich dicken Augen erstmal nach unten, wo ich jedem den ich treffe ein „dobrej utra“ entgegenmurmele. Dann wird erstmal so heiß wie möglich geduscht. Nach circa 20 Minuten fühle ich mich dann menschlich genug um das Bad wieder zu verlassen und fange an (entweder allein oder mit jemand zusammen) das Haus durchzufegen und durchzuwischen. Während dessen bereitet jemand anders schon mal die Suppe in einem wirklich monströsen Bottich vor. Einmal hat mich Irmhild Ehrlich (deutsche Missionarin, die anfangs zwei Wochen hier war, nun wieder zurück in Deutschland ist) gefragt, ob wir die Suppe auch essen würden. Sie hatte die natürlich noch nicht gesehen. Ruslan knallt da einfach alles rein was irgendwie essbar ist und macht es dann warm. Hat mich persönlich immer ein wenig an Eintopf erinnert: Der Vorratsraum wird ausgeräumt und in einen Topf gepfercht, dann zermatscht und gut umgerührt, erhitzt und dann serviert.
Trotz alledem ist allerdings zu erwähnen, dass die Suppe genau wie der Eintopf sicher gesund ist, nur eben nichts für meinen verwöhnten Magen. Der bekommt dann morgens erstmal einen oder zwei Äpfel, damit der Vitaminspiegel auf Hochtouren gebracht wird. Dazu dann irgendeine Wurst auf Weißbrotscheiben und eine Tasse Tee. Der Nachtisch wird dann natürlich wieder etwas nikotinhaltiger, aber ich achte dann darauf nur „Lights“ zu rauchen. Nachdem dann auch der Tee fertig abgefüllt und gezuckert ist, kommt die ganze Bagage in den Wagen und Marco, Ruslan und ich machen uns auf den Weg zum Caritas-Wagon. Auf dem Weg dorthin müssen wir meist noch einige Läden abklappern, da die Plastikteller, -löffel und -becher hier scheinbar Mangelware sind. Schließlich schaffen wir es dann aber an eine andere Stelle des Stadtrandes, wo wir von einem netten Pförtner auf einen alten Krankenhausparkplatz gelassen werden. Dann wird es ein wenig urig: Auch wenn die Straßen in Russland eines der beiden größten Probleme darstellen (vgl. dazu Bahira, eine Dermatologin aus Moskau, die bei uns zu Gast war: „Russland hat zwei Probleme – Infrastruktur und Idioten“), so ist dieses stark „verwaldete“/verwilderte Gelände hinter dem Krankenhaus mit seinen Trampelpfaden schon ein richtiges Erlebnis, da wir erstmal noch ein ganzes Stück mit der Karre hineinfahren.
Dann geht es aber an die Arbeit. Wir steigen aus dem Wagen aus und Teller, Becher und Löffel, Teekannen und die Suppe, sowie ebenfalls unterwegs gekauftes Brot werden schleunigst Richtung Wagon gebracht. Aus diesem holen Ruslan und ich dann Bänke und einen Tisch. Auf letzterem werden dann die Suppe und die vollen Teebecher abgestellt. Daneben steht Ruslan und gibt das Brot aus. Mittlerweile habe ich natürlich schon diverse Techniken entwickelt, um meinen Teil des Jobs (den Tee) möglichst effizient zu erledigen. Die ersten paar Becher schöpfe ich aus dem Bottich, dann erst wird eingegossen. Die Obdachlosen sind unglaublich dankbar für das was sie von uns bekommen. Sie bedanken sich immer gleich mehrere Male für Suppe, Brot und Tee. Es kommen ihnen auch Komplimente über die Lippen die einen gerade dann, wenn man morgens noch in einer eher egozentrischen Gedankenwelt, geprägt von dem Wunsch nach zehn vollen Stunden Schlaf, gelebt hat, richtig beschämen können. Nach meinen nunmehr anderthalb Monaten hier kann ich schon sagen einiges besser verstehen zu können und wenn die Leute nicht alkoholisiert sind kann ich mich schon ein wenig mit ihnen unterhalten, Fragen stellen und Antworten aufnehmen oder selbst über mein Leben in Deutschland erzählen, was die meisten auch brennend interessiert. Wenn man ehrlich ist, sind die Nahrungsmittel nur die nötige Fassade für unsere eigentliche Arbeit. So wie ein Haus nicht ohne die Mauern steht, so könnten wir auch nicht ohne Viktualien zu den Obdachlosen gehen, aber genau so wenig wäre das „Haus“ Haus, wenn es nicht eingerichtet wäre, wenn kein Leben drin wäre. Dieses „Leben“ aber schaffen wir nicht durch die Versorgung, die ist nur Basis. Es sind dann vielmehr die Gespräche hinterher. Die Möglichkeit für den Mann, dessen Hände blutverkrustet über seinen wilden Bart streichen, um die gröbsten Essensreste und den Schmutz, der sich angesammelt hat, zu vertreiben, oder für die Frau, deren Augen aufgedunsen sind von schlaflosen Nächten unter Mengen von Alkohol mit nichts um sich herum als den Klamotten, die sie anhat, die dann noch mit Schlappen barfuss läuft, wenn ich schon in Winterschuhen mit Socken friere, die einen sechzig Jahre alten Hut trägt und deren Gesicht nicht braun vom allwöchentlichen ALDI-Toaster, sondern von kalter, harter Erde ist, mit jemandem zu reden. Für einen Moment, in dem jemand zuhört, der nicht weiß wie das ist, der interessiert ist, hört dann das stete Zittern der Lippen auf und es füllt sich manchmal das ein oder andere Auge mit Wasser – immer zu kurz, als dass es ein Weinen gewesen wäre, aber lang genug, um es zu bemerken.
Mit einigen der Obdachlosen bin ich nun auch bekannt. Sie grüßen immer sehr nett schon von weitem und wir kennen uns beim Namen. Zwei der etwa 50 Obdachlosen gingen auch jeden Sonntag zur Kirche. Einen der beiden, Andrej, haben wir allerdings nun schon länger nicht mehr gesehen und sein Freund Jura weiß auch wohl nie genau wo er steckt, weswegen ich ein wenig besorgt bin, da hier auch wirklich heftige Dinge passieren. Zum Glück musste ich es nicht mit ansehen, aber einem Obdachlosen ist wohl in der Stadt nachts mit einer Axt der Schädel gespalten worden und die anderen wurden tags darauf von der Polizei zur Identifizierung des Leichnams angekarrt. Aus Astrachan erzählte David, dass dort einer Obdachlosen der Rollstuhl gestohlen wurde – einer Frau ohne Beine. Was man also sicher sagen kann ist, dass es auf der Straße keine Gesetze gibt. Genau genommen sind also die Obdachlosen gleichzeitig beinahe Gesetzlose. Das meine ich nun nicht im rein negativen Sinne, sondern eher in einem Konstatierenden. Denn auf der einen Seite werden sie vom Gesetz nicht geschützt – sie brauchen von der Polizei keine Hilfe erwarten, sie können keine Vereinigung anrufen oder sich sonst auf ihr Recht berufen. Auf der anderen Seite hätte aber auch ein durchgesetztes Gesetz auf der Straße, wo es um das nackte Überleben geht, wohl kaum Relevanz. Immer wieder sieht man einige der Leute, die am Vortag noch recht ordentliche Hosen und Pullover hatten, am nächsten Tag mit dicken violetten Flecken am ganzen Körper, die Kleidung zerschlissen und schmutzig. Das Schlimmste was ich bisher miterleben musste war der Besuch einer „Behausung“, die sich die „ribiati“ wohl berauscht irgendwann einmal zusammengebaut hatten. Unter einigen mit Brandlöchern versehenen Decken, zugepissten Klamotten, einem uralten verdreckten Schlafsack schlief, völlig alkoholisiert eine Obdachlose. Als wir uns ihr näherten wurde der Gestank immer schlimmer und ließ schon auf einiges schließen, was noch unter den Decken sein musste. Als wir sie wecken wollten machte sich schließlich ein neben ihr unter alledem pennender Straßenköter bemerkbar, der aggressiv kläffend sein Revier zu verteidigen suchte. Als der vertrieben war konnten wir endlich die stark fiebrige Frau mit Medikamenten versorgen.
Wie dicht Feindseligkeit und Freundschaft bei den Obdachlosen hier zusammenhängen habe ich auch schon erlebt. Zwei von ihnen umarmten sich erst wie alte Buddys, als der eine zur Essensausgabe angeschlurft kam. Dann wurden vielleicht vier oder fünf Worte gewechselt und es entwickelte sich eine kurze Schlägerei zwischen den beiden, dass niemand dazwischen gehen wollte und schließlich nahm der eine dann den anderen mit zur Seite und dort umarmten sie sich wieder herzlich und drückten sich dann fest, um sich gegenseitig in die Luft zu heben.
Bisher bin auch schon zweimal extrem Alkoholisierten begegnet. Das eine Mal war das eigentlich gar nicht wild – der alte hatte gut getankt und wir ihn ausnahmsweise dann trotzdem mit Essen versorgt. Weil er das selbst nicht mehr tragen konnten, hatten wir es ihm dann zum Essensplatz seiner Wahl gebracht. Dort fanden wir ihn kurz darauf auch rücklings schlafend, die Suppe über seine Kleidung verteilt, wieder. Ein herrliches Bild, aber ich hatte den Fotoapparat vergessen, den Marco da am liebsten mal ausgeliehen hätte. Das andere Mal war erst gestern, als ein bestimmt zwei Meter großer und kräftig gebauter, relativ junger Obdachloser, der sich noch nicht einmal mehr artikulieren und nur mit Mühe auf den Beinen halten konnte, in den Wagon torkele und ich just im Eingang stand und erstmal einen Meter zurück gegangen bin. Zum Glück hörte er schließlich auf unser Einreden, dass er warten müsse, bis er versorgt würde oder nie wieder etwas bekommen würde.
Im Großen und Ganzen aber ist die Arbeit beim Wagon immer ein kleines Abenteuer, bereichert und macht Spaß. Es ist sicherlich anderer Spaß als wenn im Kinderzentrum die kleinen einem zeigen wie sie am liebsten tanzen oder was sie so malen und was sie alles auf Englisch sagen können. Aber wenn ich von den Obdachlosen weggehe habe ich immer das angenehme Gefühl sicher nichts falsch gemacht zu haben.

Freitag, 5. Oktober 2007

Ein Tag im Kinderzentrum

Mit den Rolling Stones im Ohr geht es, gut voll gepumpt mit Nikotin, von der Hauptstraße in eine Seitengasse. Die schwarze Mütze tief ins Gesicht gezogen, die große dunkle Sonnenbrille auf der Nase, meine nachtschwarze Fließjacke übergezogen, Bluejeans und Segelschuhe an Beinen und Füßen, als einzigen Farbklecks manchmal meinen lila Schal um den Hals – die Erscheinung mag manche Passanten erstaunen, gerade wenn diese dann auf das katholische Kirchengelände abbiegt und flugs in einem alten Treppenhausfragment verschwindet, um eine Etage tiefer ins Kinderzentrum zu gehen. Dort folgt meist zunächst eine kurze Striptease-Einlage, da die Sachen, die ich morgens anziehe sich nach dem Wetter morgens richten, welches bisher um die Mittagszeit immer sehr unterschiedlich war. Innerhalb weniger Stunden wird es von eiskalt höllisch heiß hier. Von Jacke, Mütze und Schal befreit geht es dann zunächst meist noch mal nach draußen, um meine letzte Zigarette zu rauchen, bevor die Kleinen kommen, vor denen ich natürlich keine Glimmstängel auspacken darf (der Schein sei der Erziehung zur Liebe gewahrt). Das Kinderzentrum selbst ist „einfach gehalten“, um es mal schlicht auszudrücken. Man mag aber auch unken, dass das Gebäude bereits länger steht als die Neandertaler liegen, wenn ihr versteht was ich meine. Drinnen ist es allerdings bedeutend netter eingerichtet als der äußere Schein vermuten lässt. Es gibt eine saubere Toilette (ich erwähne das, weil man die sogar in Restaurants schwerlich findet), einen großen „Versammlungsraum“, dessen Tische und Stühle aber meist der Tischtennisplatte weichen müssen – sehr zu meiner Freude (Stefan, nimm dich in Acht!) – sowie einen kleineren Raum, der auf einen kleinen Durchgang mit Küche folgt, in dem ein Tisch und Stühle zum Basteln, Schränke für alle möglichen Utensilien, ein Schreibtisch für den Papierkram und vor Nostalgie strotzende Computer stehen. Für den nötigen geistlichen Beistand sorgen die Mutter Gottes und ein kleines Gebet (welches kann ich leider noch nicht sagen) an den Wänden. Im Großen und Ganzen ist alles sauber, wobei einem manchmal eng werden kann, wenn die ganze Mannschaft sich in der kleinen Hütte drängt. Aber dann kann man ja immer noch nach draußen gehen und eine Partie Badminton spielen, wobei man tunlichst darauf achten sollte, seinen Elan zu zügeln, was die vielen spitzen Steine und Metallgegenstände auf dem Gelände vor dem Kinderzentrum aufs Peinlichste gebieten.
Aber zurück zu meinem Arbeitstag. Ich warte also nach der Kippe drinnen, lese eines der vielen Bücher, die ich mit rüber genommen habe (ich glaube fast, dass Literatur den Großteil meines Gepäcks ausgemacht hat, obwohl ich ja zuhause kaum gelesen habe. Mittlerweile erweist sich dies aber als wahrer Segen, da ich so jede Pause sinnvoll und – nun ja, bleibe ich mal schwammig – bereichernd nutzen kann). Zwischen ein und zwei Uhr kommen dann die Kinder. Ein Handschlag, „Privjet“, dann raus mit dem Hausaufgabenheft und ich helfe schon mal den französischen Text über „Trampen an die Côte d’Azur“ zu übersetzen. Das ist eine meiner Lieblingsaufgaben. Da ich des Russischen natürlich nicht viel mächtiger bin als die meisten Kinder hier des Englischen nach drei oder vier Jahren Unterricht, muss ich entweder die Dinge auf Englisch übersetzen, die dann wiederum ein älterer Junge, der schon fünf oder sechs Jahre Englisch hat, ins Russische übersetzt oder ich bin gezwungen die Situation à la „Activity“ zu erklären. Im Klartext fordert das nicht selten das Lösen eines gordischen Knotens, wenn man nur pantomimisch, durch malen und ein paar Wörter den Satz: „Zwei Schauspieler, ein Mann und dessen Frau, mimen an einer Bushaltestelle, in der Nähe eines Bootsanlegers in einem Vorort von Paris, Tramper verschiedenen Aussehens, um herauszubekommen, welches Aussehen den besten Eindruck auf Autofahrer macht, während ein Journalist in einer uneinsichtigen Ecke die Erfolge und Misserfolge zählt“ ins Reine bringen soll. Bei diesem Musterexemplar widerlicher Verschachtelungen (meine nachträgliche Entschuldigung an meine Geschichts-, Deutsch-, und Englischlehrer) mussten wir natürlich auch manchmal das Lexikon zur Hilfe nehmen. Da dort aber auch nicht alles drinsteht, frage ich mich wie die Kinder die Hausaufgaben wohl lösen, wenn ich nicht dabei bin. Sei’s drum – nun bin ich ja da und stehe nach Vermögen zu diensten. Zu zwei Uhr dann gehen alle Kinder mit Gruppenleiterinnen und mir zur Mensa, zwei Straßen weiter. Dort angekommen, werden erstmal die Handys ausgepackt und es wird eifrig die neuste Musik verglichen und wer dazu noch Clips spielen kann und die Mucke in Ohrzerberstende Lautstärke reißen kann ist dann der King of Currywurst, beziehungsweise Kantinenfraß. Denn nachdem sich alle aus der Schule kommenden Kids versammelt haben geht es dann hinein in die Fressbude, in der sich die Lieben dann auch meist sehr ordentlich betragen wollen, da es extra zu diesem Zweck auch eine Hausordnung (von ihnen selbst aufgestellt und unterzeichnet) gibt. Zunächst werden die Hände gewaschen, dann wird das Essen von einigen serviert. Alle warten hübsch, bis jeder alles hat und fangen dann erst an zu panschen. Ein besonderer Leckerbissen ist die Suppe, die bis kurz vor dem Servieren noch in zwei Bestandteile geteilt ist: Heißes Wasser mit Brühwürfel, zumeist Kartoffelstücke und ein bisschen Gemüse trifft erst, wenn es aus dem großen Pott auf den Teller gegeben wird auf ein armselig kleines Stückchen Fleisch, welches sobald aus einem anderen Schälchen dazukommt. Ich möchte nicht gehässig klingen, aber ich finde es einfach nur zu niedlich, dass das Fleisch so exakt portioniert wird, als wenn es nicht auch noch welches im Hauptgang gäbe. Dieser besteht dann meist aus ein wenig von selbigem und Gemüse oder Reis. Nie besonders viel, aber da ich meist kurz vorher erst frühstücke ist das schon in Ordnung. Ein wahres Abenteuer ist meist der Salat. Er besteht wohl aus zwei Arten außerkosmischen Krauts (weiß und rot, aber es sind nicht Weißkraut und Rotkohl, die beiden Widerlinge kenne ich ja), nackendem Fisch, den man ein wenig matschen kann (dann hängt er in glibberigen Fäden die Gabel hinunter) und zu guter letzt einer weißen Sauce, die irgendwie, weil so niedlich garniert, an etwas zähflüssigere Kokosmilch erinnert. Meist kann ich einen guten Tausch machen, der mich, nachdem ich diesen „gesunden“ Leckerbissen abgetreten habe, eines weiteren Nachtischteilchens mit Zuckerguss bemächtigt. Dazu gibt es meist einen edlen Tropfen aus dem Trinkpäckchen. Okay, das Essen ist wie ihr sehen könnt kein Hochgenuss, aber dafür ist es ja nun einmal umsonst und einem geschenkten Gaul … ihr kennt die Story.
Beachtenswert ist, dass sowohl in der Mensa als auch im Kinderzentrum eigentlich fast alle Gebote eingehalten werden. So sind die Kinder immer zuvorkommend, geben die Hand, verhalten sich (spätestens nach einer kurzen Ermahnung) ruhig, werfen sich keine Schimpfwörter an den Kopf (sicher entflieht ihnen auch mal ein „Scheiße“ oder „Wichser“, aber das nur im Bezug auf einen durch sich selbst missglückten Aufschlag beim Tischtennis oder auf einen Fehler in den Hausaufgaben). Das einzige, was die Kleinen nicht können ist aufhören sich zu kloppen. Dabei gibt es meist einen gewissen Ablauf. Die Kleinsten zanken sich meist untereinander mit viel Spielerei, bis die Größeren auch Lust bekommen (wieso sollte es auch der Kleineren Vorrecht sein sich prügeln zu dürfen?) zuzulangen, was wiederum recht ungleiche Duelle gibt. Scheinbar bin ich, neben denen, die es abbekommen, aber der einzige, den das stört. Ich will nicht sagen, dass sich in der Gruppe ständig gehauen wird, aber doch um einiges öfter als ich es aus meinen Gruppenstunden in Aschendorf kenne und Messdiener sind schließlich auch keine besseren Menschen. Ich denke, ich werde nun verstärkt Russisch lernen, damit ich auch mal verbal dazwischen gehen kann, wenn es wieder heißt:„In der blauen Ecke der 16jährige Sergej … und in der roten Ecke der 10jährige Andrej.“
Nach dem Essen dann geht es mit all denen Kindern die noch Lust haben wieder zurück zum Kinderzentrum. Dort werden dann wieder die Französisch-, Englisch- oder Deutschsachen ausgepackt und ich helfe beim Lesen und Übersetzen von Texten. Wer will kann aber auch Tischtennis spielen, Badminton zocken, basteln, malen, Schachspielen oder was auch immer die Materialien hergeben. Möglichkeiten sind genug da und die Kinder organisieren sich die Zeit dann selbst. Ich gehe meist mit denen, die mich konkret fragen ob ich dies oder das mit ihnen lernen oder spielen will. Lange warten muss ich darauf selten, dafür bin ich – zumindest jetzt noch – viel zu interessant. Wie wohl das Leben in Deutschland sei? Ob es bei uns auch Ampeln gebe oder ob wir den Verkehr intelligenter regeln? Ob deutsche Städte viel sauberer seien? Manchmal schlägt aber auch der russische Nationalstolz zu:„Welche russischen Sänger kennt ihr denn so in Deutschland?“ „Nun“, muss ich dann immer antworten, „außer T.A.T.U. kennen die meisten Deutschen nicht eine russische Gruppe“. Dass ich persönlich auch von denen kein Fan bin verschweige ich dann galant, um nur schnell hinzuzufügen, dass ich selbst natürlich russische Musik sehr verehre, was noch nicht einmal gelogen ist, denn es gibt gerade was russische Volksmusik angeht Anspruchsvolleres als das Popgenre vermuten lässt oder wenn man von unserer deutschen Volksmusik ausgeht: was potthässliche Röcke und jodelnde Opas mit Ganzkörperwildwuchs vermuten lassen.
Herrlich ist aber auch der Sprachenmix im Kinderzentrum. Mit einem vielleicht 14 oder 15 Jahre alten Jungen rede ich Französisch, mit den beiden ältesten Englisch. Mit den anderen behelfe ich mir mit meinem wenigen Russisch und zwei anderen helfe ich mit Deutsch. Gerade beim Tischtennis wird es dann witzig: Je nachdem, mit wem ich spiele wird mal in dieser, mal in jener Sprache gezählt. Wird dann ein „Niet!“ in den Raum gebellt, wenn mein Gegenüber 15 zu 7 auf Englisch sagt, steht immer die Frage im Raum, ob das Ergebnis oder die Aussprache korrigiert werden sollte.
Die Gruppe selbst besteht mal aus mehr, mal aus weniger Kindern. Zumeist sind wir etwa fünfzehn in der Mensa, später dann im Zentrum noch sieben bis zehn. Dies ist aber von Tag zu Tag variabel. Ironischerweise kommt auf drei Gruppenleiterinnen gerade mal ein Mädchen, der Rest der Gruppe besteht aus Jungen, sodass ich nun den Leitwolf spielen darf. Die Rolle an sich ist ja ganz witzig, so kann ich immer bestimmen was „cool“ und was „lahm“ ist, trägt aber auch einiges an Verantwortung mit sich. Die Kinder sind ganz verschieden alt (schätzungsweise zwischen zehn und sechzehn Jahren) und auch charakterlich ganz verschieden. Die einen sind noch recht kindlich, während andere schon voll pubertieren (nur erwachsene Züge hat noch keiner von ihnen, wie ich immer dann, wenn ich einen für etwas reifer als die anderen beurteilen möchte durch eine Rauferei einsehen muss), einige reden schnell und viel mit mir, andere setzen sich lieber an einen kleinen Dreiertisch und fangen dann mal ein Gespräch an. Über sie zu sprechen bin ich leider bisher noch kaum gekommen, aus den Unterlagen der Caritas aber geht hervor, dass die Elternteile häufig beide trinken und/oder spielen und die Kleinen dadurch zuhause keine wirkliche Beachtung erfahren und auch keinen ausreichenden Raum haben sich zu entwickeln. In der nächsten Zeit hoffe ich eventuell mal eine Familie des einen oder anderen besuchen zu können, um eventuell mal selbst einen Eindruck zu bekommen. Die Wohnungen sollen nämlich auch nicht wirklich für die Anzahl der Bewohnenden gemacht sein.
Ich hoffe, ihr habt nun einen kleinen Einblick in meine Tätigkeit bekommen. Ich werde in dieser Woche auch versuchen einige Bilder hoch zu laden, damit ihr euch besser vorstellen könnt wie alles aussieht. Bis dahin fühlt euch so erhaben wie die Leute, die immer behaupten das Buch sei um Längen besser als der Film, da dieser die Phantasie zerstöre und allgemein nur so wenig von dem einfange, was geschrieben stehe. Jetzt habt ihr mal ein bisschen mehr zu lesen als die letzten Male. Ich hoffe, ich kann das nun jede Woche so machen.
Bis dahin nächste Woche


Jörg

Dienstag, 2. Oktober 2007

Es warten alle...

Jaja, so ist das, wenn man den ganzen Tag nur ueber die Buecher nachdenkt, die man so liesst, isst, sich freut viel geschafft zu haben, seine Hausaufgaben beendet hat und alles gut scheint - da macht mal schonmal Versprechungen, die man gar nicht halten kann. Siehe gestern Abend, als Russlan mich fragte, ob ich heute mit ihm zu den Obdachlosen ins Zentrum gehen wuerde. "Klar" sage ich und denke "Mach ich doch jeden Dienstag". Sicher, jeden Dienstag ist Obdachlosenversorgung fuer mich angesagt, aber nicht im Zentrum, sondern beim Caritas-Wagen und dort warteten alle Amtlichen vergeblich auf mich. Letztlich stellte sich mein Faux-Pas aber als Gluecksgriff dar: Waere ich nicht mit Russlan gegangen, so haetten die Obdachlosen im Zentrum heute nichts bekommen, da er den Kram allein nicht schleppen kann. Die Obdachlosen beim Wagon haben aber so oder so bekommen, was vorbereitet war.
Im Allgemeinen laeuft aber alles sehr gut. Heute habe ich ausserdem im Kinderprojekt gearbeitet und die Hotelzimmer fuer ankommende Gaeste aus Deutschland reserviert. Das war vielleicht ein Akt. Ich glaube, die Leute sprechen nirgendwo so wenig Englisch wie in Wolgograd. Fast alles gab ich Bruchstueckhaft, mit deutsch durchmischt und mit Gesten garniert an Ina, eine Mitarnbeiterin der Caritas weiter. Was nicht ging wurde eilig im Woerterbuch nachgeschlagen. Schlussendlich, nachdem sie dann fuer den Portier alles in gutes russisch transformiert hatte, war dann aber alles im Lot und ich konnte mich auf nach Hause machen. Mein Wochenende war ausgesprochen kurz, da ich immer viel zu tun habe. Entweder gibt es noch Besorgungen zu machen oder dies oder jenes will noch gesehen werden. Ausserdem habe ich samstags immer Uni. Das nervt schon ein wenig und ich liebaeugle damit, es auf einen anderen Tag zu verschieben. Ich glaube in meinem Leben noch nie soviel gelesen zu haben wie ich es im Moment tue. Will nicht jemand eine deutsche Bibliothek in Volgograd aufmachen? Ich waere sein taeglicher Stammgast! Da ich in der letzten Wochen viele Emails erhalten habe, die ich nicht alle beantworten konnte, sei hier versichert, dass ich das nachholen werde.
Bis ich das naechste Mal im Internet bin, wuensche ich allen alles Gute.


Joerg