Samstag, 28. Juni 2008

Liebesgrüße aus Moskau und Prunk aus Petersburg

Am Montag war es so weit. Unausgeschlafen und rauchend saß er da und blinzelte angestrengt in die Morgensonne. Ich ging näher heran, aber nach zwei weiteren Siebenmeilenschritten gab es keinen Zweifel mehr. David war endlich angekommen, der Urlaub konnte beginnen. Nachdem wir uns zuhause verabschiedet hatten und von Jura den Auftrag entgegen genommen hatten, Lenin zu grüßen, falls wir ihn im Mausoleum sehen sollten, ging es mit großen Pjatjoretschka-Tüten voll bepackt mit Broten, Käse und Wasser in den Zug. Der erste Schlag traf uns beim Belegen der Plätze. Entgegen der Aussage der Bahnbeamtin hatten wir nicht zwei untere, sondern nur einen unteren Schlafplatz, weswegen die Stimmung schlagartig durch eine kurze Diskussion über die Besetzung gedämpft wurde. Zu allem Überfluss saß uns gegenüber eine dicke, unattraktive Mittvierzigerin, die ihr Kätzchen mitnehmen musste, was mauzend in seinem Plastikköfferchen krabbelte. Da anfangs aber noch viele Plätze frei waren, nahmen wir an einem anderen Tisch platz und entschieden uns den Frust weg zu trinken. Als wir gerade das erste Gläschen geleert hatten, kam der Schaffner, um die Fahrkarten zu überprüfen und begann einen Smalltalk über unsere Herkunft, was wir so in Russland machen und wohin wir fahren. „Versteht ihr denn gut Englisch?“ „Ja“ „Worum geht’s denn in dem Song?“ „Grabrede und so“ „Aha…“ (der Kenner wird schon verstanden haben, dass Tool angesagt war). Scheinbar waren wir aber trotz unserer ‚Kurzangebundenheit’ wohl recht sympathisch, auf jeden Fall kam kurz danach der Kumpel unseres Schaffners auf uns zu und verkaufte uns dankenswerterweise zwei Coupé-Plätze für den lächerlichen Aufschlag von 600 Rubeln. Das Coupé hat den Vorteil, dass man nur zu zweit auf einem verdammt großen Raum hockt, das Abteil abschließen kann, Beinfreiheit beim Schlafen genießt und das Fenster öffnen kann und niemanden mit lauter Musik aus Brüllwürfeln von Ruslan stören kann. Das haben David und ich dann auch erstmal begossen und uns unser Abendessen schmecken lassen. Nach einiger Zeit entschieden wir uns dann für eine Zigarette in der Raucherzone zwischen den Wagons, wo wir auf zwei ältere und ziemlich betrunkene Damen aus Wolgograd stießen, die mir unbedingt, als sie erfuhren, dass ich meinen Wehrersatzdienst in Stalingrad schiebe, eine Signatur auf meinem T-Shirt hinterlassen wollten: „Für das Vaterland, für Stalin“. Leider ging das nur mit Kuli drauf, weswegen es nach der bitter nötigen Wäsche schon wieder ab ist. War aber in dem Moment mein ganzer Stolz. Später am Abend trafen wir an gleicher Stelle noch auf zwei Soldaten, die just ihren Dienst in Wolgograd abgeschlossen hatten und nunmehr nach Moskau nach Hause fuhren. Die Jungs waren eigentlich ganz okay, nur dass der eine im volltrunkenen Zustand nicht mehr aus unserem Coupé wollte, fanden wir gegen zwei Uhr ziemlich blöd. Um den loszuwerden, begab ich mich dann noch nachts auf die Suche nach seinem Kollegen in die zweite Klasse. Das klingt nun ein wenig abwertend und das soll es auch. Wer noch nicht weiß wie solche Abteile um zwei Uhr nachts aussehen – hier eine Kurzbeschreibung. In solchen Abteilen liegt das Musterexemplar der russischen „Babuschka“. Die Babuschka hat einige Standards, der jede von ihnen entspricht. Sie ist, um sie nun nicht zu diskriminieren, verdammt fett (das ist noch schön ausgedrückt), hat immer irgendetwas parat, über das sie sich aufregen kann, sodass ihr Leben zu einer Straße mit vielen Steinen des Anstoßes verkommt, wenn sie das vierzigste Lebensjahr überschritten hat, sie riecht ab 25° Raumtemperatur recht streng und hat zu allem Überfluss noch die böse Angewohnheit alles schlecht zu finden, was sie nicht selbst gemacht hat. So nimmt sie dann auch immer und auf jedem Weg alles mit, was man eventuell gebrauchen könnte, damit es ihr auch ganz sicher an nichts fehlt. In den Abteilen der zweiten Klasse ist aber die Babuschka nie allein. Meist hat sie mindestens zirka 20 Genossinnen bei sich, die den Trip in einem solchen Wagon zu einem „Highway to Hell“ machen. Die Damen quellen aus ihren Betten hervor, haben alle Gänge mit ihren Mitbringseln zugestellt, miefen und meckern vor dem Schlafengehen mal schrill, mal dumpf untereinander. Oder mit ungebetenen Gästen, die Bekannte suchen, um selbst ungebetene Gäste loszuwerden. Irgendwann hatte ich mich durchgekämpft und saß dem Ex-Sergeanten gegenüber. „Ich will ja nicht sagen, dass dein Kumpel uns auf den Sack geht, aber…er geht uns auf den Sack. Kannst du den nicht mal einsammeln?“ „Passt schon“. Mit meinem Freund im dunklen Trainingsanzug im Gepäck stolperte ich dann über schimpfende Babuschkas und ihre Köfferchen und Brotdosen in unser Luxus-Coupé, dem man mittlerweile auch ansah, dass Jugendliche drin hausten. Schließlich und endlich wurden wir dann unseren Schnapshammel auch los. Am nächsten Morgen wollte ich dann schon ganz gern mal für kleine Jungs, wo ich sofort den verständigen Mann im Trainingsanzug wieder fand. Fünf Sekunden später waren auch seine Freunde da, die sich über Nacht auf drei vermehrt hatten. Nachdem wir denen dann aus dem Kopf schlagen konnten, sich noch zu betrinken (uns war mal echt nicht danach), wollten die Ex-Soldaten uns unbedingt etwas schenken. Kurze Zeit später waren wir dann um eine Feldflasche und einen Offiziersgürtel reicher. Die Feldflasche bekam David mit Originalsignatur. Der Offiziersgürtel war vom Kommandeur geklaut und ging an mich. Beide Trophäen mussten wir aber teuer mit langen und lauten Gesprächen bezahlen, die uns die Fahr nach Moskau nicht gerade versüßt haben. Ich will gar nicht sagen, dass die Kerle keinen Humor hatten, aber auf einige „Brüller“ kann ich mit einem flauen Magen schon verzichten, wenn ich schon kein Konterbier mittrinken kann, weil meine Gastriten ein „P“ davor setzen. Zur Verabschiedung gab es noch eine Einladung auf eine Datscha in die „Podmoskovnije“, also die Umgebung von Moskau, die wir gern annahmen, aber dann auch schnell wieder vergaßen.

Ich merke gerade, dass, wenn ich alles erzähle, was uns so an Skurrilitäten über den Weg gelaufen ist, ich wohl einen zehnseitigen Eintrag werde schreiben müssen und bemühe mich um eine interessante Auswahl.

In Moskau ist auf jeden Fall noch die Mutter von Bahira zu erwähnen, die ein echtes kalmykisches Unikat ist. Sie ist etwa siebzig Jahre alt und kennt ihre Philosophie in- und auswendig: Wenn man immer gut isst, kann einem im Leben nichts passieren. Außerdem hängt auch eigentlich alles im Leben vom Essen ab und es besteht im Grunde auch nicht aus viel anderem als essen. Gut, ich mag essen. Sogar recht gern und auch viel. Aber die Alte haut einen echt um. Kleines Beispiel gefällig? Makkaroni mit viel Butter und dicken Heißwürstchen um acht Uhr zum Frühstück. Guten Morgen, ich geh’ mal grade aufstoßen! Sie konnte aber auch etwas anderes: Hühnchensuppe mit richtig dickem Fleisch (das, was ich früher gern „Glibber“ nannte) oder Gretschka mit scharfem Schweinefleisch. Wenn ich ihre interessanten Gerichte dann morgens nicht essen wollte war sie mir sogar wirklich böse und konnte mich bestimmt zehn Stunden lang auf dem Kieker haben, was einen echt nerven kann, wenn sie in der ganzen Zeit als Stadtguide einem auch nicht von der Seite weicht. So mussten David und ich auch einen ganzen Tag mit ihr zubringen, den sie auch voll und ganz auszufüllen wusste. Morgens früh ging es los (mit oben genannten Makkaroni) und dann mit der Elektritschka, einer Art RB, nach Moskau hinein. Das war alles nicht wirklich schlimm, da dieses kleine Muckelchen morgens nicht das aller Aktivste ist und es uns schnell verziehen hatte, dass David und ich bei dem Lärm im Zug unsere MP3-Player angeschmissen hatten. Als nächstes hatte die Gute eine Bustour zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten auf dem Plan, die auch sehr gut überlegt war, da man mit Bahira im Schlepptau einfach mal überhaupt keinen Überblick über die Stadt gewinnt, da sie einen nur mal hierhin und mal dahin leitet, ohne dass man wirklich eine Chance hätte zu sagen von wo aus man sich wohin bewegt. Interessant bei dieser Tour waren besonders die Unterschiede zwischen den Botschaften, an denen wir vorbeifuhren. Die deutsche Botschaft ist beispielsweise ein schwarz-grauer Bunker, der in seiner Hässlichkeit seinesgleichen auf der Welt kaum finden wird (das Holocaust-Mahnmal in Berlin als Kunstobjekt vielleicht einmal ausgenommen) – unser Volk hat es sich wohl irgendwann einmal mit den Musen kräftig verscherzt. Dagegen ist das kleine Stück Frankreich auf russischem Boden ein wahres Schmuckkästchen. Das Schloss im Stadtzentrum, nicht weit von der großen Lamanosov-Universität, besteht aus vielen kleinen Backsteinen, welche sich auf einer Fläche von geschätzt drei oder vier Quadratmetern nicht einmal farblich wiederholen. Und bei all der Pracht, die mit barock anmutendem Stuck komplettiert und mit einer passenden Gesamtkonzeption abgerundet wird, schafft es das Volk der Nasallaute trotzdem noch, dass das Bauwerk nicht kitschig oder übertrieben bunt ausschaut. Ich war entzückt. Ansonsten kamen wir natürlich auch am Roten Platz und am Kreml vorbei, die wirklich beeindruckend sind. Zum einen natürlich wird man von der puren Größe überwältigt, zum anderen vom schicken russischen Baustil mit den interessanten Zwiebelkuppeln der Wassilikathedrale (falls meine Benennungen der Bauwerke im Übrigen nicht mit dem Standard übereinstimmen, mag man mir verzeihen, da ich das alles aus dem Russischen recht frei übersetze, da weiß ich genau wie jedes Steinhäufchen heißt) oder dem roten Stein und den mächtigen Wachtürmen der Stadtfestung. Der Mittelpunkt Moskaus ist wirklich schön und wirklich teuer, wenn man ihn mit Astrachan oder Wolgograd vergleicht. Gut, mag man sagen, dass Moskau auch zu den teuersten Städten der Welt zählt, aber trotzdem waren wir hier und dort schon schockiert von Preisen, die zwar noch gut in unser Portemonnaie passten, aber das Budget eines russischen Touristen gut sprengen sollten. Andere Haltepunkte unserer sich anschließenden Tour mit Bahiras lieber Frau Mama waren die Erretterkirche, die, ganz in weiß von außen, von Alexander I gebaut wurde und innen wohl zu den schönsten Kirchenbauwerken überhaupt gehören mag. Zumindest kann man mit Fug und Recht behaupten, dass der Kölner Dom oder die Jeanne D’Arc geweihte Kirche in Orléans um Längen nicht mithalten können. Durch den Alexandergarten und den roten Platz ging irgendwann auch ein irrer Tag zu Ende, an dem wir viel gesehen haben und gigantisch viel gelaufen sind. Und an dem ich mir alle 15 Minuten anhören durfte, dass ich so wenig esse. Dass ich beim Abendessen besser reingehauen habe als David wurde dann darauf geschoben, dass David klüger war und ja auch besser gefrühstückt habe. Ich sei sicher nur hungrig gewesen. Da es der lieben Alten aber nicht nur um das Essen ging, hatte – das sollte man noch erwähnen – auch David schnell genug von ihr. Sie ist eben eine richtige russische Babuschka und fand bald, dass David zu oft (zweimal) auf die Toilette müsse und hatte sowieso viel zu meckern oder umgekehrt Dinge zu bewundern, die uns etwa soviel interessierten wie der sprichwörtliche Reissack, der hin und wieder mal in China umfällt.

Außerdem muss man aber noch unbedingt erwähnen, dass wir echt eine gute Zeit in Moskau hatten und wirklich entspannen konnten, wie als wir mal einen ganzen Tag lang nur auf Sofas gelegen und uns vier Filme am Stück reingezogen haben. Da haben wir natürlich nicht viel von Moskau gesehen, aber in unsere beiden Reiseziele will ich auch eh noch mal wieder zurückkommen, um noch etwas mehr davon „mitzunehmen“.

Dann ging es abends nach Petersburg. Die Fahrt in die Stadt des „deutschen Zaren“ hatte schon ihre kleinen Macken. Nachts hätten wir beinahe den Zug verpasst, weil uns eine Elektritschka vor der Nase weggefahren war und wir danach in den Leningrader Bahnhof joggen konnten, an dem wir uns dann noch schnell etwas zu essen mitnahmen. In einem kleinen Laden lachten mich sehr lustig ein paar Pommes an, die ich schon lange nicht mehr gekostet hatte und so griff ich auch zu dem unverschämten Preis von 40 Rubeln pro Portion (Größe eines Tempotaschentuchs) zu. Im wurden die Fritten dann schnell ausgepackt und sollten heiß und fettig verschlungen werden. Problem: Die Kartoffelstäbchen waren wohl fettig, aber noch nicht einmal mehr lau, sondern schon komplett kalt. Darüber hinaus hatten sie wohl schon ein paar Mal mehr in der Friteuse gebadet, was ihren Geschmack in den alter Pappe verwandelte. Das konnte sogar die mit gekaufte Packung Ketchup nicht retten, da die nach einem verunglückten Versuch von Miraculix’ Zaubertrank schmeckte und auch zauberhafte Flecken auf meine beige Hose brachte. Es ist wirklich herrlich wie russische Züge ruckeln können. Als nächstes stellten wir fest, dass wir auch in diesem Zug beschissene Plätze hatten, entschieden uns dann aber uns nicht darüber aufzuregen, sondern direkt nach der „Gute Nacht Zigarette“ schlafen zu gehen. Am nächsten Morgen begrüßte uns dann endlich die schönste Stadt Russlands (und vielleicht sogar Europas, ich weiß nur, dass ich noch nie in einer hübscheren Stadt war) mit ihrem leicht abgekühlten Wetter, welches aber der „es muss jetzt besser werden Stimmung“ aber keinen Abbruch tun konnte.

So ging es dann auch direkt morgens nachdem wir das Gepäck abgeliefert hatten und uns in einem kleinen Bistro mit „petits pains au chocolat“ gestärkt hatten, los zur Isaakkathedrale, von deren Balustrade man den gesamten Zentralrayon überblicken kann. Danach gab es dann nach einem kleinen Mittagessen einen Siebenmeilenrundgang durch die Stadt. Zunächst ging es zum Newaufer und von dort zur Peter und Paulsfestung, in die Kirche der selbigen (dort liegen seit Alexander I alle Zaren meist mit Angehörigen und einige Komtessen begraben) und weiter zum neuen Stadion. Darauf besichtigten wir noch weitere drei Kirchen auf den beiden Nordinseln, bevor wir uns entschieden wieder aufs „Festland“ zu fahren. Eigentlich standen noch ein paar hübsche Botschaften und ein großer Park auf unserem Programm, der aber letztlich doch durch einen Regenguss sabotiert wurde, weswegen wir nur an kleinen Newa-Armen entlang zur ehemaligen Wohnung Wladimir Iljitschs gelangten, was auch sofort mit einer kleinen Fotosession im Regen belohnt werden musste. Um dem schlechten Wetter zu entkommen, gingen wir nach einer kurzen Metrotour in einen Bierpavillon, um uns ein wenig einzuleben. Nach ein paar netten Geschichtchen, die man sich über den Tisch warf, bekamen wir Begleitung. In einer gewissen Art widerlicher Vorbestimmung ziehen David und ich zusammen wohl immer nur das Schlimmste vom Schlimmsten an – ähnlich wie Unrat die Fliegen, wobei ich nicht hoffe, dass man uns sozial schon auf ein solches Level einstufen muss. Wie dem auch sei. Es näherte sich also diese brünette Dame, Ende dreißig, aussehend wie Ende vierzig und interessant wie verwesendes Gras im August, unserem Tisch. Ob sie bei uns sitzen könne, fragte sie mit starkem russischen Akzent nach einer hinuntergeschluckten Begrüßung auf Englisch. Sie wäre eigentlich in all ihrer Ausgebranntheit die ideale Presse für die Tränendrüse des volkschristlichen Mitleids gewesen, aber nicht, wenn man wie David und ich bereits zehn Monate mit Menschen zu tun hat, die mehr Probleme haben als „widerwärtiges Aussehen: Stufe 10“ und gerade zum Ausruhen ein paar hundert Kilometer zurückgelegt hat. Alle ausweichenden Entschuldigungen wie: „Das ist unser letztes Bier, wir gehen gleich“ oder „Wie wollten eigentlich Privates besprechen, unter Freunden“ schlugen gleich fehl, da wir Deppen auch noch auf Russisch antworteten, was unser Gast mit unbändiger Freude aufnahm. Schon über die Bänke zu einem Platz neben dem meinem stolpernd versicherte sie sich - wie die Menschen, die erst ihre Zigarette anzünden und dann fragen, ob das auch in Ordnung sei, ohne auch nur im Traum daran zu denken, die Lunte wieder auszumachen, wenn andere dagegen sein sollten – ob sie sich auch wirklich setzen könne. Nach ein paar frostigen aber halbherzigen Versuchen unser Gespräch auf Deutsch weiterzuführen, ging dann die Standardfragerei los. Was macht ihr? Woher kommt ihr? Wie lange schon hier? Bla, bla, bla. Nachdem wir erklärt hatten, was wir so treiben ging es erst richtig los. Unsere Schönheitskönigin erwies sich als glühende Verfechterin der „guten, alten Tage“, in denen die Breschnijews und Stalins der Einheitspartei den Menschen noch ethische Maßstäbe vermittelten. Was sie denn damit meine. Früher hätten Frauen nicht geraucht. Ein Zug an der Zigarette. Und nicht getrunken. Ein tiefer Schluck aus dem Becher mit Zapfbier. Dass man mit diesem Menschen nicht logisch und ernsthaft diskutieren konnte, war schnell festgestellt. Die Augen rollend verabschiedeten David und ich uns ständig, um uns, die Blase auf der Toilette entleerend, kurz von diesem schwafelnden Ohrenkrebserreger zu erlösen. Irgendwann taten das Bier und das frische Petersburger Wetter aber auch bei ihr ihre Wirkung und veranlassten sie zu einem Gang auf „den einen Platz“, wie die Russen sagen. Mit Feuerseifer erklärten David und ich ihr den Weg zu den Örtlichkeiten, um uns, sobald sie außer Sichtweite war, schnell zu verziehen. Zuletzt hatte ich sogar versucht durch bewusst ausfällige Wortwahl unser graues Täubchen zu einem Themenwechsel zu bringen, aber sie hatte es nicht anders gewollt. Wir verließen den Njewskij-Prospekt und gingen nach Hause, wo uns, wie an jedem kommenden Abend ein Fernseher mit Liveübertragungen von der Fußball-EM erwartete.

Ein weiteres Highlight unserer Fahrt war der Besuch der Ermitage. Alles war so gut geplant. Wir hatten den Stadtplan dabei und wollten uns nur noch ein paar Croissants und ein Wässerchen in dem netten Café gönnen, bevor es in die Kunstsammlung schlechthin Russlands gehen sollte. Aus dem Bistro hinaus ging ich schnurstracks nach links, um die Metro zu nehmen. David hielt mich an und wollte lieber zu Fuß laufen, dreht rechts herum und ich folgte ihm. So gingen wir auch einige Zeit, bis wir endlich (schon leicht verspätet) auf die Brücke stießen, die eingezeichnet war. Gut, der Linksknick war auf der Karte nicht zu sehen, aber den hatte man sicher der Einfachheit wegen weggelassen. Also ging es über die (sehr lange) Brücke weiter. Auf der anderen Seite suchten wir dann vergeblich bestimmt eine Viertelstunde lang den versprochenen Park zur Linken, der scheinbar gegen ein Reihenhaus eingetauscht worden war, bis wir an eine Metrostation kamen, die schon fast nur von Plattenbauten umringt war. Das kam uns alles schon sehr komisch vor, da das Stadtzentrum im Grunde ein großes Museum ist, in dem man keine Kommunistenbauten antrifft, aber wir gingen weiter. Kaum hatten wir uns noch darüber lustig gemacht, dass uns, wenn wir nun nach der Ermitage fragen würden, sicher alle Leute auslachen werden, da wir „total ab vom Schuss“ wären, als wir auf dem Straßenschild bemerkten, dass unsere Straße nicht mehr „Njewskij-Prospekt“, sondern „Hinter dem Njewksij“ hieß, was wir dann auch am linken, unteren Ende der Karte wieder fanden. Wir waren einfach mal ein paar Kilometer in die falsche Richtung gegangen. Man kann sich also auch gut verirren, wenn man eigentlich nur eine Straße zu laufen hat. Wir haben’s geschafft. Zum Glück hatten wir unsere Zeitverlust durch die Metro schnell wieder drin und kamen so, leicht erschöpft, auch an der Ermitage an, wo uns direkt eine Überraschung erwartete: Es waren kaum Leute auf dem Platz der Admiralität. Schnell zum Tor geeilt war der Grund ersichtlich. Montags Ruhetag. Von den Schicksalsgöttinnen verflucht setzten wir uns ans Newaufer, um den gescholtenen Füßen eine Ruhepause zu geben. Am Ende des Tages hatten wir aber trotz allem noch zwei Gärten auf der Checkliste verbucht und waren in der „Auferstehungskirche auf dem Blute“ gewesen, in der ich beinahe echte Randale geschoben hätte, da man uns nicht zum Studententarif reinlassen wollte. Als wir unsere Tickets dann abends zu den anderen legten, bemerkten wir die nächste Dummheit: Mit dem Ticket für die Isaakkathedrale kommt man frei in vier Kirchen in Petersburg. Wir hatten 170 Rubel für nichts und wieder nichts ausgegeben, sondern hätten einfach nur unsere Tickets vom Vortag mitnehmen müssen. Gut, das ist nicht die Welt, gibt einem nach einem solchen Tag aber den Rest.

Bis auf solche kleineren und größeren Missgeschicke verlief unser Urlaub aber recht entspannend und wir haben wirklich viel zu Gesicht bekommen. Stationen unserer Tour waren das Schloss Katharina der Großen mit dem neu erbauten Bernsteinzimmer, einer großen Parkanlage mit allerlei Badehäusern und Gärten, der Peterhof, also das Vorstadtschloss Peter I, welches sich besonders durch seine Wasserkaskaden und goldenen Springbrunnen auszeichnet und die Ermitage, in die wir letztlich doch noch hineingekommen sind und die verschiedenste Kunstschätze vom Altertum bis in die Moderne beherbergt.

Anstrengend wurde dann wieder die Heimfahrt im Zug. 33 Stunden hatten wir bei der Abfahrt vom Moskovkij Bahnhof und entschieden uns daher, wieder Coupé-Plätze zu belegen. Zwar bekamen wir auch wieder welche, nur dass diese diesmal nicht für normale Passagiere waren, sondern in dem geräumten Kabuff des Schaffners bestanden, der sich kurzerhand entschieden hatte in der Nacht überhaupt nicht zu schlafen, da der Zug sowieso jede Stunde an einem Bahnhof hielt, an dem der Schaffner eh raus musste. Schnell hatten wir es uns aber bequem gemacht. Sonnenblumenkerne hatten wir in Hülle und Fülle bei uns und Bier war fix organisiert. Rauchen konnte man zu späterer Stunde sogar im Coupé, da die Klimaanlage abgestellt wurde. Sogar Musik war noch am Start, sodass wir auch bis zum nächsten Morgen nichts zu beklagen hatten. Dafür ging es dann aber auch recht dicke los. Just aufgestanden, hatte David sich schon eine Zigarette angezündet, was eine Schaffnerin auf den Plan rief, da die Klimaanlage und der Rauchalarm morgens wieder angemacht worden waren. Ob wir Probleme hätten oder welche wollten. „Nein, eher nicht“. Wieso wir denn dann im Abteil rauchen würden? „Wer raucht denn?“ Sei ihr egal. Wir müssten Strafe zahlen. Das passte mir so gar nicht in den Plan, da ich von horrenden Preisen für solche Kavaliersdelikte gehört hatte, die um die 30 Euro liegen und nicht mehr in unsere Geldbeutel passten. Zum Glück hatten wir die Kiste schnell schwarz ausgehandelt und sind mit 8 Euro davon gekommen. Dann begann die große Langeweile. Irgendwann kann man keine Sonnenblumenkerne mehr essen, weil die Finger vom Aufdrücken schmerzen. Warmes Bier ist eh nicht jedermanns Sache und einfach nur Musik hören geht einem schon nach zwei Stunden auf den Wecker. Wir wechselten den Tagesrhythmus also ins Ungesunde und kamen auf Musikhören, zur Toilette gehen, Rauchen, Rumstöhnen, dass alles langweilig ist, Musikhören, Leseversuche und dann wieder Musikhören, Toilette, Rauchen usw.

Am Ende der Fahnenstange kamen wir dann auch in Wolgograd an, von wo David noch mal acht Stunden zurück zu legen hatte. Auf mich wartete nur noch ein ganzer Arbeitstag von morgens bis abends, für den ich nach einer Stunde Schlaf etwa so bereit war, wie eine Schildkröte zum Pferderennen. Zum Glück ging es mit den Kids aus dem Zentrum mittags ins Planetarium, wo ein etwa 45minütiger Film gezeigt wurde, während dessen ich ein vorzügliches Nickerchen halten konnte. Im Übrigen gibt es neue Kinder im Zentrum, die zu den bekannten Bengeln dazukommen und bei weitem angenehmer sind. Mit etwa acht bis neun Jahren ist das fast das Alter, in dem Messdiener ausgebildet werden – mit denen kann man noch was machen, da die nicht pubertieren. Aber dazu könnte ich schon wieder einen Roman schreiben, was jetzt nicht sein muss. Im Gegenteil mache ich mit dem wohl letzten oder vorletzten Eintrag Schluss, wünsche alles Gute und verbleibe mit lieben Grüßen an alle Leser

Jörg

Samstag, 31. Mai 2008

Wirre Eindruecke aus einer Zeit laengerer Web-Abstinenz

Magenverstimmung in Russland? Kein Problem! Es gibt gegen alles jede Menge Tabletten und eine Handvoll guter Ideen, was man im Falle des Falles noch alles Lustiges anstellen kann, sollte sich die Verstimmung hartnäckig halten. So auch bei mir. Nachdem ich drei bis vier Monate Diät hinter mir hatte, die kaum geholfen hat, ging ich wieder zum Arzt (dummerweise direkt am ersten Tag, nachdem mein Vater abends vorher angekommen war) und bekam auch sofort einige lustige Pillen verschrieben und sollte am nächsten Tag morgens zum Krankenhaus fahren, um eine Magenspiegelung durchführen zu lassen. Morgens nüchtern auf der Matte, musste ich erst einmal rausbekommen, wo sich denn der Henkersmeister befindet, der mir in den Innereien wühlen sollte. Und so wühlte ich auch ich - im Inneren des Krankenhauses. Die Suche erwies sich als schwieriger als angenommen, da sich manche Ärzte auch fies in Kellergeschossen verstecken können, zu denen es unlogische Ausschilderungen gibt und jede Menge dämliches Krankenhauspersonal, welches die einfachsten Wege nicht erklären kann. Als ich meinen Folterknecht endlich ausfindig gemacht hatte, war ich schockiert: Eigentlich sah er gar nicht so schrecklich bärig aus und hatte eine recht mütterlich anmutende Helferin an seiner Seite (wobei so etwa 90% aller russischen Frauen über 40 sind). Der Mann glänzte durch gute Manieren und brachte mir schonend bei, was mich erwarten würde. Ich solle mich auf die Seite legen, das Handtuch, welches ich mitbringen sollte, unter den Kopf legen, den Mund öffnen und die Betäubung schlucken. Danach sollte ich eine Art Beißring in die Klappe bekommen, durch dessen innere Höhlung dann ein etwa Fingerdicker schwarzer Schlauch geschoben wurde – Stückchen weise mit einigem vor und zurück in den Magen. Gesagt getan: Das Muttchen kam mit dem Spray und ich begann zu schlucken: „Guter Junge“, sagte die Ärztin. „Scheiß Spray“, dachte ich, denn das Betäubungsmittel wirkte etwa so narkotisierend wie ein ordentlicher Schluck Wodka und war wahrscheinlich auch nicht großartig anders zusammengesetzt. Danach ging auch alles nach Plan. Beißring, die schwarze Schlange in den Rachen und mein ständiger Kampf mit dem Brechreiz. Man kommt in dieser Situation unwillkürlich wieder zu den anderen Abschnitten seines Lebens wieder zurück. Die guten, alten Tage übertriebenen Alkoholgenusses, in denen man mit aller Geistes- und Körperkraft irgendetwas wollte (etwa andere Menschen davon überzeugen, dass man nicht betrunken ist), es aber einfach nicht bekommt, im Gegenteil merkt, dass alle Anstrengung einen nur reizt und vom Ziel entfernt, alsdass man näher käme, um dann wieder langsam Kontrolle über den berserkerartig, scheinbar fremdkontrollierten Körper zu gewinnen. Etwa so kämpfte ich mit den Inhalten verschiedenster Gallen und Drüsen, die mir die Speiseröhre hochwollten, während doch von oben fatalistisch die schwarze Schlange drohte, die auf ihrem Weg nach unten nicht gerade zimperlich vorging. Nachdem schließlich auch eine Probe meiner Magenflüssigkeit genommen war, kam die Schlange wieder raus. Endlich löste sich das Rätsel um mein Handtuch, das bisher eher unnötig gewesen war, da es mir nur durch eine gewisse Flauschigkeit den Aufenthalt hätte angenehmer machen können, was allerdings auch nur dem Tropfen auf dem heißen Stein gleichgekommen wäre. Nun aber kroch das schwarze Biest aus dem Rachen und war noch nicht ganz aus meinem Mund hinaus, als sich ein interessanter Mix verschiedener Substanzen im liquiden Zustand anschickte ebenfalls seine gewohnte Umgebung zu verlassen und auf meinem schönen, flauschigen Handtuch landete. Nach dem Eingriff hätte mir der Arzt auch erzählen können, dass ich dort fünf Geschwüre hätte, die ich binnen drei Tage in Deutschland operieren lassen müsste – es hätte nichts an meinem glückseligen Zustand ändern können, dass ich das beinlose Reptil mit dem Beißring überlebt hatte. Vom Magen her sieht es nun schon bei weitem besser aus und ich kann fröhlich meinem Urlaub entgegenblicken, den ich in einer Woche mit David nach Moskau und St. Petersburg antreten werde.
Bis dahin habe ich allerdings noch ein wenig Mehrbelastung vor mir, da Marco gestern Morgen nach Italien geflogen ist und ich nun mit Ruslan und Jura allein bei uns bin. Anatoli hatten wir samstags zur Arbeit gebracht, wo wir ihn abends nicht wieder finden konnten, da er, nach Meinung einer alten Dame, die dort immer Grünzeug verkauft, zechen gegangen war. Also hatte Marco die Order ausgegeben, dass, wenn Anatoli betrunken nach Hause kommen sollte, er nicht bei uns schlafen darf, sondern rüber ins andere Projekt in eine „Einzelzelle“ kommt, um Skandale zu vermeiden. Natürlich musste alles schief gehen. Ich telefonierte gestern Abend mit meiner Mutter, als plötzlich jemand am Tor stand. Also sagte ich Ruslan Bescheid, er solle nachgucken, wer dort sei. Natürlich hat Ruslan die Tür gleich so weit aufgemacht, dass Anatoli reinspaziert kam. Auf meine Anweisung musste Ruslan dann schnuppern, um der Alte gesoffen hatte oder nicht, sagte dann aber strunk-doof laut gesprochen, dass Toljan sternhagelvoll sei. Der fing darauf natürlich direkt an zu schreien und um sich zu schlagen. Nachdem ich ihn beruhigt hatte, ging er auch direkt schon ins Haus, um wie gewohnt nun zu essen und sich schlafen zu legen. Da aber klar war, dass Jura ihn noch so sehen würde, musste der Trottel irgendwie wieder aus dem Haus hinaus. Argumentativ konnte man ihn schon nicht mehr überzeugen, also musste ich es unter physischer Einwirkung versuchen, wobei ich ihm aber auch nicht wehtun wollte. Anatoli ist nun aber auch nicht der Hellste, sondern, im Gegenteil, wohl eines der dümmsten Geschöpfe unter der Sonne, und begann zu schreien. Darauf kam natürlich Jura nach unten. Als Toljan sich kurz von mir gelöst hatte und zur Treppe rauf wollte, prallte er direkt gegen den Bären, der ihm nur einmal sagte, er solle sich zum Teufel scheren und als Anatoli nicht begriff, ihn direkt an der Kehle und im Nacken packte und ihn so würgend bis zur Haustür trug, wo ich ihn endlich dazu bewegen konnte, den alten Narren loszulassen. Der konnte erstmal ein paar Momente lang gar nichts sagen, was ich ausnutzte, um ihn rüde einzuhaken und auf die Straße zu schleifen. Danach konnte ich mir noch zehn Minuten sein Gebrüll anhören, bis wir im anderen Projekt angelangt waren, wo ich ihn dann abgab. Da hat er eine ganze kleine Wohnung für sich allein und seine dummen Anschuldigungen. Will mal hoffen, dass ich den bis zum Ende der Woche nicht wieder zu mir nehmen muss, sonst bekommt der noch ein Donnerwetter von mir.
Im Großen und Ganzen nimmt das Leben hier aber seinen gewohnten Lauf. Die Arbeit ist in Ordnung, auch wenn ich mir in letzter Zeit ziemlich viel Blödsinn anhören muss. Dafür werde ich allerdings auch durch andere Aktionen entschädigt, wie letztens, als wir mit der gesamten Belegschaft auf eine Datscha gefahren sind. Nachdem ich zunächst Ina und Irina ein wenig auf der ihrigen geholfen hatte, stießen wir zu den anderen, die sich schon auf dem neuen Schmuckstück von Ludmilla breit gemacht hatten. Sogleich wurden die mitgebrachten Salate und Brote auf dem Tischchen verteilt und ein Feuer für Schaschlik angefacht. Wir begannen so gegen elf oder halb zwölf mit dem Essen und waren so gegen zwei fertig. Da ging natürlich jede Menge an verschiedenen Leckereien dahinter. Auch an Wein und Wodka hatten es die (mit Ausnahme dreier Herren) Damen nicht mangeln lassen. Nach den ersten paar Bechern ging es zum Tanzen, wobei ständig russische Songs aus den 60ern oder noch älter gespielt wurden. Ich kannte davon natürlich einfach mal gar nichts, aber das war auch nicht weiter schlimm, denn die Situation mit leicht betagten Damen bei über zwei Promille die Hüften zu stumpfsinnigem 4/4-Takt zu schwingen bin ich noch von Dorffesten her gewohnt. Als ich irgendwann zu beliebt wurde, entschied ich mich kurzerhand einen kleinen Spaziergang zu unternehmen, bei dem ich Ina und Irina einholte. Nach einer kleinen Meinungsverschiedenheit mit meiner Projektleiterin über die Musik biss diese mir dann mir nichts dir nichts in den Arm, wovon ich noch fast zwei Wochen eine Kruste zurückbehielt. Bisher scheint es mir aber, dass der Biss harmlos war, Ina also als „ungenießbar“, nicht aber als „giftig“ eingestuft werden muss, da ich von Entzündungen verschont geblieben bin. Falls das noch ein Nachspiel haben sollte, werde ich ernsthafte Probleme beim Arzt bekommen, wenn ich dem erzählen muss, dass die Wunde nicht von einem irren Rottweiler, sondern von meiner Vorgesetzten kommt, die so gern das Aushängeschild der katholischen Gemeinde bildet. Aber nichts für ungut. Nach diesem „unangenehmen Zwischenfall“ entschied ich dann, dass die Gefahr einer Safari in der Umgebung der Datscha definitiv höher sei als die, auf dem Gelände von dem Rest der Belegschaft im Rum-Ta-Ta totgetanzt zu werden oder sich einen „Ohrenkrebs“ einzufangen. Zu meinem Glück holte Andrej dann auch bald seine Gitarre raus und wir begannen (es war zwei Tage vor dem 9. Mai) Kriegslieder zu singen – sehr zur Belustigung trug dabei mein voller Einsatz bei, als es in einem Vers soviel hieß wie: „Und schlagen wir dem alten Fritz / In Berlin eins auf die Mütz’“, was ich nur deswegen mitgesungen hatte, da ich die Worte beim lesen nicht so schnell identifizieren konnte, was mir im Übrigen häufiger auffällt, wenn ich beispielsweise Zeitung lese und über den Sinn eines Satzes nachdenke, der sich mir einfach nicht erschließen will, da ich Worte, die mir längst bekannt sind, in Druckform nicht so zügig wie das gesprochene Wort erkenne und einordne. Nachdem sich endlich alle über meine neue russische Seele ausgelacht hatten, durfte ich einen Song bestimmen (den einzigen, den ich kannte): „Podmoskovnije Wetscheta“, was soviel heißt wie „Nächte in der Moskauer Umgebung“ und von dem die Russen denken, dass er in der ganzen Welt bekannt ist. Könnt ja mal schreiben, wenn euch der Titel geläufig ist; wenn sich herausstellen sollte, dass ich eine Bildungslücke habe, mag ich meinen Spott zurücknehmen, aber bis dahin halte ich den russischen Kulturstolz für übertrieben. Zum Ende des Tages hatte ich mich just von dem Mann der „Psychologin“ im Kinderzentrum gelöst, der mir Gemeinsamkeiten zwischen Tanz und Sex nahe legen wollte, was mir bei diesem Herren sehr unangenehm war, da ich ihn mir – unwillkürlich – nachdem ich den Tanz ja schon gesehen hatte, nun auch in der von ihm gewählten Parallele vorstellen musste. Trotz des fünften oder sechsten Glases Wodka konnte ich eine gewisse Reizung in der viel erprobten Magen- und Speiseröhrengegend noch unterdrücken. Sofort hatte ich mir den Mann von Ludmilla gefischt, um mit ihm ein Gespräch über Arbeit, Geld und Hobbys angeknüpft, als auf einmal alle wegliefen, um noch den Bus nach Hause zu erwischen. Zum Glück war der gute Mann auf Draht und ließ mich nicht in der Zwickmühle zwischen Unhöflichkeit und Notwendigkeit stecken, schenkte mir noch eine Schachtel Zigaretten und wünschte mir alles Gute. Rennend erreichte ich dann doch noch den Bus und wäre, wenn nicht russische Straßen mehr aus Schlaglöchern als aus Asphalt bestünden, wohl auch im Stehen eingeschlafen, so aber wurde ich immer wieder wachgerüttelt, durch das wenig periodisch klappernde Auf und Ab unseres Busses. Aus dem Bus ausgestiegen, hatte Ina immer noch nicht genug und konnte mir einfach meine Zigaretten nicht gönnen, die sie mir bis zur Maschrutka-Haltestelle beständig aus dem Mund zog, was ich recht heiter fand, da ich mehr als genug hatte, um mir immer nach zwei Zügen eine neue anzuzünden. Schlechterdings ist Ina bei der Arbeit längst nicht immer so heiter – glücklicherweise aber auch nie so abgedreht.
Wie man sieht, komme ich hier also sicherlich nicht vor Langeweile um und bleibe hoffentlich bis zum 15. heile, um den festen, deutschen Boden wieder zu erreichen. Ich denke, ich werde das nächste Mal wieder berichten, wenn ich aus dem Urlaub wieder da bin, den ich ja heute in einer Woche antreten werde und wünsche bis dahin alles Gute



Jörg

Sonntag, 13. April 2008

Wolgograd im Frühling

Es ist mal wieder viel Zeit ins Land gegangen, viel Wasser die Wolga hinuntergeflossen, seitdem ich das letzte Mal einen Eintrag geschrieben habe. Wie es sich so häufig fügt, hatte ich mit einigen Motivationsschwankungen zu kämpfen, die mich ständig davon abhalten konnten mich an den Laptop zu setzen und einfach drauf los zu tippen. Zum anderen ist vieles einfach nur noch Bekannt und gleichzeitig schwer näher zu bringen, wenn man es mit den eigenen Augen nicht sieht. Nun habe ich allerdings scheinbar allen Unmut überwunden und suche ein oder zwei Themen, über die ich wieder referieren mag.
Da ist zum einen das Osterfest, von welchem ich noch nichts berichtet habe. Die am schlimmsten anstrengende, entkräftende Zeit des katholischen Kirchenjahres ist auch in Russland ein Genuss für jeden Teilzeit-Masochisten. Es fing alles mit einem Aschermittwoch an, wie wir ihn auch aus Deutschland kennen: Abendmesse, Hinweise auf Verzichtmöglichkeiten, Aufrufe zu regelmäßigem Kirchenbesuch und Ruß auf der Stirn. Das blöde hier ist nur, dass alle darauf achten was und wie viel man im Nachhinein die ganzen 40 Tage durch fastet. So gab es für jede Zigarette, für jede Coca Cola Stress und Nerventerror, für Essen im Café sogar einen beachtlichen Rüffel, der sogar durchaus ernst gemeint war. Zum großen Finale hin kamen dann noch die großen Messen (Gründonnerstag bis Ostersonntag) dazu, in denen meine Nervenbahnen einen Superstau auf allen Straßen aufgrund ungekannter Überbelastung durch unsinnige, unstrukturierte Predigten und der gleichen meldeten. Eine wahre Meisterleistung, dass ich ständig alles wegdrücken konnte und nicht in Depressionen oder Ausbrüchen versunken bin. Allein die Auferstehungsmesse dauerte vier Stunden, die wirklich über die Grenzen der Belastbarkeit hinausgehen können. Als dann alles geschafft war, konnte ich mir dafür aber auch wieder beruhigt alles gönnen, was mir Spaß macht und worauf ich Lust habe. Gleichzeitig kam endlich der lang ersehnte Wetterumschwung, der einen aus der kargen Schale des Winters hinaus reißt und mit warmen Strahlen verschiedenster Farben die Lebenslust wachruft.
Im Garten haben wir nun begonnen die ersten Pflanzen zu setzen, neue Beete anzulegen und auch endlich mal unseren Wagen gewaschen. Der arme Zobel war den ganzen Winter über nicht gepflegt worden und sah aus wie frisch aus der Unterwelt durch allen Urschleim und alle Gezeiten gezogen. Nachdem Jura und ich ihn allerdings ordentlich abgeduscht hatten war er durchaus wieder präsentabel. Bis der Alte sich vor drei Tagen überlegt hatte den Schornstein weiß zu streichen, wobei ihm etliche Tropfen auf den Transporter geplatscht sind und ihm nun eine Taubenscheiße-Camouflage verpasst haben, die ihn im Käfig unserer lebenden Friedenssymbole sicherlich unsichtbar machen könnte. Leider wird die Karre nie in den Genuss dieses zweifelhaften Vorteils kommen. Bemerkenswert ist auf jeden Fall auch eine weitere Neuerung in unserem Fuhrpark: Die russische Klapperkiste ist nicht mehr das einzige Fortbewegungsmittel, welches unsere Gemeinschaft von A nach B durch die dschungelartigen Schlaglöcher der staubbedeckten Seitenstraßen unseres Zigeunerviertels bringt. Ihm zur Seite steht nunmehr ein kleiner Motorroller, mit dem ich häufig mit Jura zum Kiosk fahre, um uns nach getaner Arbeit ein Bierchen zu gönnen. Gerade weil der Gute meist schon zwei drin hat, wenn wir unser röhrendes Ungetüm besteigen, sind die Fahrten durchaus interessant, da Zwischenstopps in Matschpfützen, in denen sich eine Lache Regenwasser mit Benzin und Hausabfällen noch wacker vor dem Austrocknen hält, oder metertiefen Schlaglöchern nicht selten zu kleinen Abenteuern aneinanderreihen. Ein geradezu kryptisches Rätsel tut sich mir jedes Mal auf, wenn Jura den einzigen nennenswert großen Stein auf der Straße mitnimmt, wenn wir eigentlich mit Leichtigkeit drei oder vier Meter um diesen herum hätten zirkeln können. Nichtsdestotrotz kommen wir aber immer an unserem Ziel an und so sitzen wir dann hinterher immer an unserem großen Tisch auf der Terrasse, trinken Bier, rauchen, essen Trockenfisch und spielen Nardi. Abends ist es mittlerweile sogar noch so warm, dass man sich beruhigt auch noch den Sonnenuntergang ansehen kann, bis es dann ins Haus geht, um das Essen vorzubereiten.
Bei der Caritas sind leider im Moment weniger rosige Zeiten angesagt, da den Babuschkas am Caritaswagon wohl jemand gesteckt haben muss, dass ich nur noch drei Monate hier sein werde, wonach sie wieder für einige Zeit alles allein machen dürfen. Auf jeden Fall werde ich nun ständig gebeten eine ganze Stunde früher zu kommen, nur um ein paar Teekannen über eine Straße zum Wagon zu schleppen und Gartengeräte an die Obdachlosen auszuteilen, was die Alten auch noch gerade allein machen könnten. Ich sitze danach nämlich immer 50 Minuten, bis der Wagen mit den Lebensmitteln kommt, gelangweilt in der Gegend herum. Im Grunde würde ich mir dafür ja etwas zum Lesen mitnehmen, aber die Nicht-Beachtung für die arbeitenden Jungs ist mir eine zu große Provokation. Mitarbeiten wäre eigentlich auch ein Mittel die Langeweile zu vertreiben, aber man muss wissen, dass das erstens die Babuschkas nicht erlauben würden, wenn ich mir „die Finger dreckig machen würde“ und außerdem die Arbeit für die Jungs nur da ist, um sich einen Extra-Piraschok zu verdienen. Würde ich dort mit anpacken, wäre bald kein Müll mehr da, den man aufräumen könnte – also lass ich das lieber. Bleibt also die Langeweile durch das morgens so willkommene Fallenlassen in tiefe Gedanken, die bis in einen Tagtraum hineinreichen, zu ersetzen, was mir allerdings durch das hohe Geschrei und nervtötende Gejaule einer Valentina Borisovna zerstört wird und mich wieder in meine Urlage versetzt: Jörg tigernd neben dem Wagon, Jörg zum zehnten Mal die Teller durchzählend, Jörg nach dem Wagen Ausschau haltend, Jörg in Langeweile gefangen. Zumindest eine neue Beschäftigung konnte ich mir zueignen: Ich darf endlich die Schreibarbeit übernehmen. Jeder Obdachlose, der eine Portion in Empfang nehmen will, muss sich registrieren lassen. So kann ich zehn Minuten lang mit dem auferlegten Mundschutz und den unglaublich seriösen Latexhandschuhen durch die Wildnis der Wagonumgebung laufen, um jeden der Kumpels nach Haus-, Vater- und Vornamen zu fragen.
Im Kinderzentrum ist im Grunde alles in Ordnung. Erst gestern haben wir endlich zwei ewige Störenfriede rausgeworfen, die mit lauten Beschimpfungen in bester Affenmanier das Gelände ein letztes Mal verließen. Da ich die beiden sowieso schon in jeglicher Weise aufgegeben hatte, war es mir, um ehrlich zu sein, auch nicht besonders schade. Zuletzt kamen sie nur noch zum Essen, um hinterher sofort wieder auf Streifzug zu gehen: Rauchen, Trinken, nach Mädchen gucken. Das Gesicht ständig in Zornesfalten, pausenlos schreiend wäre Mitleid über einen „Verlust“ wirklich fehl am Platze gewesen. Dagegen macht das Basketballspielen nun, da es draußen fast ständig über 20 Grad sind, besonders viel Spaß und bringt einen weiteren gefestigten Programmpunkt in jeden Tag. Immer häufiger nehmen nun auch andere Jungs meine Hilfe bei Hausaufgaben in Anspruch und auch wenn ich viel selbst machen muss, weil die Kids einfach mal fast nichts können, macht es mir Freude und Hoffnung, dass eventuell ein wenig hängen bleiben mag. Es ist aber auch nicht gerade Merkmal des russischen Schulsystems, dass es auf Leistung wert legt. Im Grunde ist hier noch viel mehr als in Deutschland das Lernschema „von Arbeit zu Arbeit“ attraktiv. Wenn man halbwegs ordentlich schreibt und ein bisschen Kleingeld für den Lehrer dabei hat, kommen die Noten bestimmt. Ich muss sagen, dass ich es beinahe zum Schmunzeln finde, dass sich in Russland die Korruption sogar bis ins Bildungssystem verbreitet hat. Um gewisse Diplome oder Noten zu bekommen, braucht man nichts zu wissen – wer Geld hat bekommt alles ausgestellt.
Auch im Bezug auf die psychologische Arbeit mit den Kids hat sich einiges getan. Wir treffen uns jeden Freitag, um alle ständig kommenden Kinder durchzugehen, planen Belohnungen und Restriktionen und tauschen Erfahrungen und Beobachtungen aus. Nächsten Montag soll noch mal ein Plantreffen stattfinden, auf dem auch über eventuelle Ausflüge beratschlagt wird, worauf ich mich schon freue, weil ich gern mal wieder aus der Stadt herauskäme.
Ansonsten steht nun schon in gut zwei Wochen der Besuch meines Vaters hier an, auf den ich mich auch schon tierisch freue. Die eine oder andere Überraschung wird es bestimmt noch geben und ich bin schon recht gespannt.
Ich verabschiede mich auf hoffentlich etwas baldiger als beim letzten Mal



Jörg

Donnerstag, 6. März 2008

Russland zur Halbzeit

Wie sieht mein Alltag nach fünf Monaten aus? Ist die Welt um mich herum noch die gleiche wie bei meiner Ankunft? Bin ich „angekommen“, um diesen pädagogischen Ausdruck noch einmal zu bemühen?
Nachdem nun die Hälfte meiner Zeit hier in Russland aller Planung nach wohl schon um ist, wird es Zeit ein Zwischenfazit zu ziehen. Sicher ist Russland nicht mehr so geheimnisvoll, so völlig anders, so zum-Erkunden, nicht jede Ecke schreit nach einem zweiten Blick, nicht jede Geste fordert ihre Erklärung. Die Sprache, die Menschen sind bekannt geworden, Orte zur Gewohnheit, zur Alltäglichkeit, zu Vertrautem. Ich kann nach Hause kommen und weiß, dass es in einer Stunde Abendessen geben wird. Ich weiß, dass jenes wohl aus Makkaroni, Pizza, Kartoffeln mit Würstchen oder mit Kartoffeln gefüllten Teigtaschen bestehen wird. Ich weiß, dass ich um 8:30 Uhr aufstehen kann, wenn ich nicht duschen will, um noch schnell meinen Griesbrei runter zu bekommen, bevor ich in die Maschrutka muss, um zum Caritas-Wagon zu fahren, ich weiß, dass wenn ich eine Viertelstunde zu spät zur Haltestelle komme, wir mit dem Sammeltaxi in der Rushhour Wolgograds an der Brücke neben dem Bahnhof hoffnungslos zum Stehen kommen werden. Ich kenne alle Beschäftigten des nächstgelegenen Petjoritschka-Marktes, weiß dass, wenn Ruslan abends nicht grüßt, er wieder seine „Phase“ hat, und habe auch die beste Stelle für eine Maschrutka aus dem Stadtzentrum ausgemacht. Ich kann mich eine Woche lang durch die Stadt bewegen und mit Ausnahme der Kassiererinnen in Supermärkten und der Maschrutkafahrer nur mit Leuten sprechen, die ich schon recht gut kenne.
Heißt das, mein Leben hier ist langweilig geworden?
In gewissem Sinne wird man sicher sagen „ja, ist es“, weil es durchaus mehr Bekanntes als Unbekanntes gibt, weil Routine und Alltag keine zuhause gelassenen Begriffe sind, sondern vielmehr ein paar Monate nach mir – in Teilen sogar schon wenige Tage und Wochen nach mir – hinzugeflogen sind. In einem anderen Sinne vermag das Wort aber sich nicht der Situation gerecht zu werden, es ist zu wenig, unfertig, roh und ungenau, geradezu plump. Es hängt der Routine den faden Beigeschmack der Öde an, des nicht mehr Sehens- oder Betrachtenswerten. Sehens- hörens- ja, erlebenswert ist aber nach wie vor alles in Wolgograd. Keine Situation, kein Ereignis kann seinen Wert verlieren, dadurch, dass Teilfaktoren absehbar geworden sind. Vielmehr lädt sie dazu ein, genauer hinzusehen und einen tieferen Blick zu gewinnen, die Aufschlüsselung, Dechiffrierung des „What’s Behind the Curtain?“, denn hinter einer jeden Geste versteckt sich ein Stück Kultur, welches noch längst nicht erreicht ist, wenn die Geste routiniert, normalisiert worden ist. Die Geste muss kategorisiert werden, zwingt nach einer Sinnsuche, die immer wieder spannend sein kann. Ein Beispiel:
So wie es anfangs schien, sind die Russen ein sehr geselliges Völkchen. Es wurden mir immer eifrig Händchen ausgestreckt, Gesundheit gewünscht zur Begrüßung, meist sogar wenn man sich nicht kannte folgte eine herzliche Umarmung. Das schien alles sehr freundschaftlich hier abzulaufen. Man begegnet sich wie unter Brüdern, nicht selten wird auch dieses Wort benutzt.
„Super“, habe ich mir gedacht, „soviel Herzlichkeit, da wollen wir doch nicht geizen und zur Gegenoffensive blasen!“ Gesagt, getan begann ich also eifrig Hände zu schütteln und zu umarmen. Alles und jeden habe ich herzlich, laut und derb begrüßt. Kam anfangs auch alles ziemlich gut. Genau genommen auch jetzt noch, bis auf die eine Situation, die sich dreimal in der Woche abspielte, wenn ich ins Kinderzentrum kam und auch Elena und Ina die Hände fest drückte, nachdem ich mit einem lauten „Здорово!“ eingetreten war. Da sahen mich einige Kinder immer ein wenig hilflos-verwirrt an. Vor einiger Woche hat man mich dann aufgeklärt: Frauen darf man auf keinen Fall auch nur die Hand drücken. Das ist völlig unschicklich und „geht gar nicht“. Klar ist mir Russland auch schon vorher als „Great Empire“ des Machotums bekannt geworden, aber das wusste ich noch nicht. Bei Begrüßungen sind Frauen so zu sagen zweiten Ranges. Man darf ehrfurchtsvoll die Hand ergreifen, wenn die Dame sie einem hinhält, umgekehrt allerdings nie die seine anbieten geschweige denn, dass man eine Frau ähnlich herzlich mit „Schwester“ grüßen würde, wie man einen Kerl mit „Bruder“ ansprechen darf. Kurioses Land könnte man denken und es damit auf sich ruhen lassen. Dann fiele wirklich die erlernte Geste in die blanke, langweilige Routine. Geht man allerdings weiter, sucht nach Parallelen in anderen Situationen, verknüpft Verhaltensweisen miteinander, so kommt man zu einem interessanten Gesamtbild, welches allerdings fast nie stehen bleiben kann, sondern aufgrund seiner Fülle ewig-progressiv bleibt.
Eigentlich sollte dieser Bericht länger werden, aber irgendwann ist mir die Power ausgegangen, man verzeihe mir.

Italiener oder Tschetschene? – auf jeden Fall ein guter Freund

Da ich vor kurzem oder längerem gebeten wurde mal einen Artikel über Marco zu schreiben, will ich dem heute einmal nachkommen. Sicher wird dieser weniger witzig, weniger zynisch als andere, da man sich bei ihm über weniges, wenn überhaupt über etwas wirklich lustig machen kann. Trotzdem ist es mehr als angebracht diesen einmal ausdrücklich zu erwähnen – nicht zuletzt, weil er der Herr dieses Hauses ist und ein wirklich einmaliger Mensch dazu.
Was sollte man über meinen besten Freund in Wolgograd wissen?
Nun, er ist etwa 1,80 groß, hat etwas dunklere Hautfarbe und schwarze Haare, braune Augen, wie es sich ja auch für einen echten Italiener gehört. Russen stufen den meist unrasierten Südländer zumeist allerdings als Afghanen oder Tschetschenen ein, was gerade im Sommer sehr witzig war, als ich immer, wenn ich mit ihm irgendwohin fuhr, darauf angesprochen wurde, woher ich denn komme. „Aus Deutschland, ich arbeite als Freiwilliger hier in einer kirchlichen Organisation“, war dann immer meine Antwort, worauf Marco dann bemerkte, dass auch er Ausländer sei, aus Italien komme und auch hier arbeite. Wenn davon überhaupt Notiz genommen wurde, dann höchstens ein müdes Zucken mit den Augenbrauen nach dem Motto: „Was will der Tschetschene sich denn bitte interessant machen?“ Dann kam man wieder auf mich zurück, woher genau ich komme, dass die Leute Verwandte in Deutschland hätten und so weiter. Einmal, so erzählte mir Marco, kam diese nicht ganz vorurteilsfreie Verknüpfung zwischen seinem Aussehen und seiner Herkunft sogar zu offener Abneigung, wenn man das nicht sogar schon Rassismus nennen darf. Er saß, von Italien kommend, in Moskau fest, weil Nebel den Abflug verhinderte. Über Nacht stellte dann die Airline ein Hotel mit Doppelzimmern zur Verfügung. Als sich dann immer zwei Fluggäste zu einem Pärchen zusammenfinden sollten, bekam Marco zunächst gar keinen Partner, bis er schließlich mit einem anderen Reisenden zusammen übrig blieb. Dieser trat dann leise an den Herrn von der Airline heran und bat ihn um ein Einzelzimmer, welches er aus unerfindlichen Gründen bräuchte. So stand Marco endlich allein dort und wurde in ein zweites Einzelzimmer verfrachtet, da alles Angst vor dem dunklen, tschetschenischen Terroristen hatte.
Über Marco gibt es ansonsten noch ziemlich viel zu wissen, wohl zuviel, um es hier niederzuschreiben.
Unendlich dankbar bin ich ihm beispielsweise für die wohl aufopferungsvolle Arbeit anfangs, als ich hier just rüber geflogen war und er sich mit mir einige Abende lang auf die Terrasse gesetzt hat, zwei Bier öffnete, das Nardi-Spiel auspackte, Zigaretten auf den Tisch legte und wir einfach begannen zu spielen – learning by doing. Dann entwickelten sich meist sehr interessante Gespräche, die sich an gemeinsamen Interessen entlang hangelten. So ging es über Philosophie und Theologie, über Musik oder meine neuen Mitbewohner, über die es natürlich auch einiges Wissenswertes gab. Wie wir uns dort unterhielten ist sicherlich auch interessant zu wissen. Wir hatten kurzerhand einen eigenartigen Sprachmix dafür entwickelt, welcher aus Latein, Alt-Italienisch, Englisch und ein paar Brocken Russisch bestand, mit dem wir, meist noch behelfsmäßig gestikulierend und mimend, im Grunde alles mit der Zeit besprechen konnten. Und davon, von der Zeit, hat er sich jede Menge genommen. Häufig blieben wir nach dem Abendessen direkt sitzen und fingen an zu reden. Manchmal bis ein oder zwei Uhr in der Nacht. Es ließ sich immer irgendein Thema finden und hat mir direkt am Anfang enorm geholfen Begriffe zu lernen, die mehrfach aufkamen und mich gleichzeitig gut davon abgelenkt, dass ich in einer völlig anderen Welt war. Denn sobald ich hinter mir hier das Tor unseres Innenhofes geschlossen habe (das ist natürlich mittlerweile immer noch so, aber bemerkenswert ist es, dass es direkt von Anfang an so war), fühlte ich mich sicher und zuhause. Dazu tat sicher die warme Atmosphäre solcher Gespräche ihren Teil dazu.
Wichtig ist sonst noch zu wissen, dass Marco ziemlich viele interessante Ansichten hat. Nein, ich will den Schuh noch anders aufziehen, damit ich mich besser verständlich mache.
Wer kennt sie nicht, die Aversion, wenn man sich mit ein paar Leuten im gleichen Alter trifft, vielleicht kennt man sich schon ein bisschen, aber noch nicht so wirklich, alsdass man die anderen zu seinem Freundeskreis zählen würde, nicht so, dass man gewisse Einstellungen schon kennt, also einen tieferen Eindruck von jedem gewonnen hat, dann das Thema abgleitet und sich jemand entschleiert mit: „Ich bin Vollblut-Katholik“ oder „In der Bibel steht…“ oder auch nur der simple Satz „Ich glaube an Gott“. Nicht, dass ich nicht Katholik wäre, nicht die Bibel kennen würde oder nicht an Gott glaubte, aber dieses offene Bekenntnis dazu lässt in meinem Kontrollzentrum nicht selten das rote Lämpchen mit der Aufschrift „Jungchristlicher Fanatismus“ aufleuchten. Da kommen Erinnerungen an einige völlig verwirrte Geister vom Weltjugendtag, neben Bildern aus dem Film „Dogma“ vom „hippen Jesus“ hoch. Das Blinken des roten Lämpchens geht dann einher mit dem Aufstellen meiner Nackenhaare und dem instinktiven Bedürfnis die Runde zu verlassen, um mit niemandes Unmut zuzuziehen. Von Marco könnte allerdings einer der oben genannten Sprüche auch kommen. Aber das rote Lämpchen bleibt dunkel. Die Alarmglocke geht nicht los. Woher kommt das?
Zum einen, weil ich weiß, dass Marco ein Leben mit vielen Ups und Downs durchlebt hat. Er hat eine behinderte Schwester, die in der Schule stets gehänselt wurde und mit der er zusammen jeden Tag im Schulbus fuhr und somit auch unter die Räder des Mobbings kam. Dann lebte er in vollen Zügen die 80er und frühen 90er aus, um schließlich aber sogar in der Drogenszene zu landen, ein Programm dagegen mitzumachen und endlich in die Gemeinschaft einzutreten und nach Russland zu fahren. Wenn so ein Mensch seine Erfahrungen weitergibt muss man einfach zuhören. Wenn man weiß, mit was für Menschen er sich hier entschieden hat seit nunmehr acht Jahren zusammen zu leben, nimmt man ihm auch ab was er von Nächstenliebe erzählt und kann es nicht auf den großen Haufen der leeren Parolen schieben. Wahrscheinlich war mir der Glaube an Events wie dem WJT oder in anderen Kontexten häufig schlicht zu seicht. Er hatte keinen Tiefgang und schien ein Witz im Verhältnis zu moderner Philosophie zu sein. Ich will nicht leugnen, dass ich diese deswegen auch häufig bei Weitem attraktiver fand, aber was kann man denn bitte auch schon an einer Durchschnittspredigt in einem durchschnittlichen Dorf (ich meine das durchaus nur statistisch) als jugendlicher Gymnasiast interessant, attraktiv finden? Dabei gibt es auch in der langen Tradition der katholischen Denker eine lange Reihe von Köpfen, die sich mit modernen Philosophen durchaus messen können, bzw. meiner Meinung nach diese noch bei Weitem übertreffen. Vergleicht man nur einmal Schopenhauers lächerliche geistige Einmauerung vom psychischen Determinismus mit Thomas von Aquins Teilvorwegnahme des Existenzialismus, so kann man nicht (wie im Übrigen auch immer noch in der Schule gelehrt wird) von geistigem Stillstand im – von der Kirche regierten! – Mittelalter sprechen. Gerade weil Marco aber auch solche Denker kennt und gern ließt und sich offen über alles unterhält, macht es so unendlich viel Spaß mit ihm zu sprechen, zu diskutieren. Jemand der freiwillig und nur aus Glaubensgründen nach Russland kommt kann keinen „seichten Glauben“ haben und zieht das Interesse einfach auf sich.
Auch sehr wichtig zu wissen ist, dass Marco unglaublich gut kocht und deswegen die Mägen hier im Haus immer zur Zufriedenheit aller gesättigt sind. Sicherlich kocht er als Italiener meist Makkaroni oder Pizza, aber im Grunde ist die Auswahl an Soßen und Zutaten so groß, dass es geschmacklich meist nicht zu fade wird.
Zur Tradition erhoben haben Marco und ich in der Woche um 22:30 Uhr South Park auf MTV anzugucken, weil das selbst mit der russischen Synchronisation noch sehr witzig ist und so zumeist den Schlusspunkt des Tages bildet.
Bevor ich mich nun mit dem Schreiben wieder direkt übernehme belasse ich es lieber bei diesem kurzen Artikel und verabschiede mich bis zum nächsten Mal.



Jörg

Samstag, 2. Februar 2008

Zähne und andere (Durch-)beißereien

Ich hatte vor einiger Zeit einmal eine kleine Charakterisierung unseres sibirischen Bären auf dieser Seite zum Besten gegeben. Diese muss nun wieder geändert werden. Kurz nach meiner Rückkehr aus Elysta kam nämlich auch Marco aus Italien wieder – mit einer großen Tüte „Kukident“ im Gepäck. Jura hat nun ein Gebiss und sieht damit echt mal rattenscharf aus. An der Stelle, wo sich noch vor wenigen Tagen und Wochen ein eingefallenes Loch, den schon nicht mehr vorhandenen Zahn der Zeit in memoriam und in Ehren haltend, befand, wo einem der nackte Kiefer hämisch und unangebracht in einem Lachanfall, geradezu schamlos entgegentrotzte, wo quasi das gähnende Nichts über das Sein gesiegt zu haben schien, dort blinkt nunmehr die stattlich-gesittete Phalanx der „Dritten“, die Jura auch so oft wie nur irgend möglich zu präsentieren sucht. Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass das Gebiss den ganzen Menschen ein Stück weit verändert hat. So war für diesen rauen Teddy früher auch eine unverständliche, lispelnde Aussprache symptomatisch, welche sich nun, über einen gewissen Prozess der Gewöhnung an den Fremdkörper, in sauberes Russisch verwandelt, was es nicht mehr so schwer macht ihn zu verstehen. Das kann allerdings auch daran liegen, dass sich meine eigenen Fähigkeiten in der Sprache verbessern (mich lobt ja sonst keiner und bevor ich mir multiple Persönlichkeiten zulege mache ich das lieber in jedweder Hinsicht lieber) oder es liegt daran, dass sich mein Verhältnis zu Jura bessert. So habe ich mir vor etwa einer Woche einen neuen Zeitvertreib zugelegt, welcher mir auch richtig gut tut, mich erfrischt, den Körper wie den Geist beansprucht und belebt und fast jeden Tag möglich ist: Ich kloppe Eis und schippe Schnee.
Die Idee zu diesen etwas konventionellen und auf den ersten Blick nicht sehr aufregenden Aufgaben kam mir, wie bereits erwähnt, vor etwa einer Woche, als mir mal wieder ein Tag ätzenden Nichtstuns bevorstand. Da ging ich – alle Nervenstränge bis zum Zerreißen, ob eines rüden Rüfflers in Richtung „schwacher Deutscher“ – gespannt auf Jura zu und erklärte ihm, ich wolle ihm draußen beim Arbeiten helfen. Aus irgendeinem Grunde, vielleicht ist das psychologisch ja auch wieder auf die Zähne zurückzuführen, war der Alte aber gut gelaunt und erklärte, er hätte eine Aufgabe für mich. Ich sollte zunächst aufessen, dann mit ihm nach draußen gehen, alles ansehen, dann eine Stunde pausieren („mit vollem Magen arbeitet es sich schlecht“), um dann selbstständig anzufangen. Mein Aufgabenbereich umfasste direkt zwei anspruchsvolle Bereiche: Zum einen musste ich mit einer Eisenstange mit gehörigem Durchmesser, welche am Ende zu einer Spitze verformt ist, einfach das Eis in der Abflussrinne unseres Innenhofes aufbrechen, um es im zweiten Schritt mit der Schaufel von unserem Gründstück zu transportieren. Mittlerweile bin ich im Übrigen schon aufgestiegen, was wohl auch mit meiner Beförderung von „Schwächling“ zu „Schafskopf“ zusammenhängt. Jura hat nämlich für jeden hier einen lieben Kosenamen (außer für Ruslan, weil der in seinen Augen sowieso für nichts zu gebrauchen ist und seiner Meinung nach das glücklichste Leben von uns allen führt, da ein großes Hirn nur mehr Probleme bedeutet und bei „Russik“ oben schließlich alles leer ist). Marco war vor mir „балван“, also Schafskopf, und ist nun zum Oberhammel aufgestiegen, während ich nun seine alte Position innehabe. Vor dem Eiskloppen war ich nur schwach und hatte somit gar keinen Platz in der „juraschen Hierarchie“. Nach meinem Aufstieg darf ich nun auch den dritten Teil der Arbeit übernehmen, der darin besteht mit einem alten Besen das angesammelte Wasser durch die Abflussrinne auf die Straße zu fegen und dabei eventuelle Schwachstellen der Rinne auszumachen, um sie dann mit der Eisenstange zu beheben. Die Arbeit tut mir, gerade vor dem Hintergrund, dass ich hier ansonsten vorrangig kochen, fegen und wischen gelernt habe, ziemlich gut. Meret wird sich vielleicht noch an eine Email erinnern, in der ich ihr mit Bestürzung über eventuelle Verweichlichung geschrieben habe. Davon bin ich nun weit entfernt – mit Jura verbringe ich am Tag manchmal anderthalb bis zwei Stunden draußen, Schnee fegend und Eis stoßend, bei Minusgraden, bis uns von der Arbeit warm geworden ist und wir uns dann zu einer seiner 14-Milligramm-Teer-und-12-Milligramm-Nikotin-Zigaretten nur mit Pullover und T-Shirt auf die Bank unserer Terrasse setzen, gemütlich schweigen und rauchen.
Auch ansonsten hat sich in unserem Haus einiges geändert. So wohnt Sascha aus persönlichen Gründen nicht mehr bei uns, sondern hat sich eine kleine Wohnung ein paar Straßen weiter genommen, die ein Schlafzimmer, eine kleine Küche, sowie eine Toilette umfasst. Anatoli haben wir alle schon länger nicht mehr gesehen. Den Guten hatten wir vor etwa einer Woche „zur Arbeit“ gebracht und abends dort nicht gefunden. Das ist an sich schon mal nichts Ungewöhnliches. Unser blinder Opa geht dann gewöhnlich nach der Arbeit noch eine Runde saufen, um sich ein wenig Befriedigung für die wodka-süchtige Leber zu verschaffen. Dann ruft uns abends meist spät jemand an, um uns mitzuteilen wo sich unser ältestes Familienmitglied aufhält, verbunden mit der Bitte ihn schleunigst abzuholen, der wir dann auch umgehend nachkommen. An jenem Abend allerdings kam kein Anruf, weswegen Ruslan und ich, nach getaner Arbeit im Stadtzentrum, an der Unterführung „Komsamolskaja“ nach dem alten Trunkenbold Ausschau hielten. Nicht lange mussten wir warten, da kam Tolik auch schon von der Toilette wieder und tastete sich seinen Weg die Treppen hinunter, um sich wieder auf sein Kissen zu setzen und den Tag zu begrüßen. Auf unser Anfragen, wo er denn die Nacht verbracht habe, antwortete er, er habe bei seiner Tochter geschlafen, die ihn dort abends zuvor aufgelesen hatte. Schon ziemlich verwirrend, da sich das liebe Familienblut die letzten acht Jahre auch nicht um ihren Vater gekümmert hatte und ihn nun – ganz plötzlich – bei sich wohnen lassen sollte. Toljan erklärte, dass er noch bis Dienstag (es war Freitag als wir ihn sprachen) dort schlafen und leben wolle, um hinterher wieder zu uns zu kommen. Tja, bisher ist er noch nicht angekommen und so langsam beginnen wir uns Sorgen zu machen, wo er denn wohl geblieben ist. Höchstwahrscheinlich hat er nämlich schon eine ganze Woche exzessiven Alkoholkonsums hinter sich (davon hält ihn nämlich nichts und niemand ab, wenn er an seiner „alten Stelle“ sitzt, wo er noch alles aus dem Gedächtnis kennt und ihn hin und wieder auch Bekannte aus alten Obdachlosenzeiten besuchen kommen), was seiner Fettleber gar nicht gut bekommen wird. Wenn wir demnächst nichts von ihm hören dürfen wir uns wohl auf einen Besuch in den umliegenden Kliniken einstellen – das Dumme ist ja, dass man keine Vermisstenanzeige aufgeben kann, da Anatoli auch keine Papiere besitzt, die ihm seine Tochter herstellen wollte. Aber da ja weder die Tochter noch der genaue Aufenthaltsort dieser Person bekannt ist, tappen wir (so ironisch dieses Bild nun ist) alle im Dunkeln über den Verbleib unseres Opas, der mit seiner röchelnden Bassstimme in der Kurilka oder seinen vergeblichen Versuchen den Ausgang aus der Küche zu finden immer wieder für Belustigung gesorgt hat. Ich hoffe stark, ihn demnächst wieder in die Kirche begleiten zu dürfen. Wie viele schlecht unterdrückte Lachtränen er mir schon in die Augen getrieben hat! – auf meinen Arm gestützt und wegen Eises oder Treppenstufen fast gefallen, fluchend bis zum Kirchtor.
Ansonsten berichtenswert erscheint mir noch meine Kurzzeitberufung zum Hausverantwortlichen im Suchtprojekt. Vor ein paar Tagen war Davor mit den Jungs nach Elysta gefahren und hatte mich gebeten in seinem Haus nach dem Rechten zu sehen. Das bedeutete Schneeschüppen, eine tägliche Mahlzeit für den Hund, zwei für die Katze und die Fische, drei für Pascha und mich. Pascha ist in etwa der Anatoli Davors: Er ist etwa 1,60 Meter groß, schon vielleicht in seinen Siebzigern, sieht nur noch durch eine alte Hornbrille, in die Gläser eingesetzt sind, deren Dicke man lieber in Zenti- als in Millimetern angibt und kann sich nur sehr langsam und humpelnd fortbewegen, da seine Füße von einer lähmenden Krankheit befallen sind, die entweder nicht rückgängig gemacht oder sogar am Fortschreiten nicht gehindert werden kann. Was ich nicht wusste als ich hinüberging war, dass Pascha ein Gedächtnis wie ein Sieb hat. So wunderte ich mich schon ziemlich als er mir am Samstagvormittag etwa siebenmal die gleiche Geschichte erzählte:
1. Introduktion.
- Entschuldige mich natürlich.
- Wofür denn?
- Ja, ich muss mich da bei Marco bedanken.
- Wie meinen?

2. Hauptteil.

- Na ja, ich kenne ihn ja schon mindestens 30 Jahre, wenn nicht noch länger (lacht).
- (gedacht) Komisch, Marco ist erst 29 Jahre alt und davon erst acht Jahre in Russland.
- Er kam damals immer zu mir. Wir wohnten ja – wie soll ich dir’s sagen? – gegenüber. Also hier (er zeigt es mit seinen Händen auf dem Holztisch an) wohnte ich, hier ist die Straße und hier wohnte Marco. Ich wohnte in der fünften Etage. Wenn er dann morgens zur Arbeit fuhr, klingelte er bei mir. Manchmal hupte er auch. Dann kam ich runter und fragte: „Was ist los?“ - „Pascha, es gibt Arbeit“ und ich sagte „Fahren wir!“. Ich habe ja immer gearbeitet. Klar, ich hatte auch meine Fehler. Ich habe mir von dem Geld immer (er nimmt den Mittelfinger hinter den gekrümmten Daumen und schnippst sich seitlich gegen den Hals) Wodka gekauft und mich dann betrunken. Tja und dann – natürlich muss ich mich bei Marco bedanken. Wie sagt man noch? Dass Gott ihm Gesundheit und ein langes Leben beschere! Na ja. Ach ja. Meine Frau hat mich dann verlassen, als meine Beine den Geist aufgaben. Verdammte Scheiße – entschuldige bitte die Fäkalsprache. Da hat Marco mich aufgenommen. Ich habe ja keine Verwandten. (Nun folgt eine etwa fünfminütige Aufzählung aller Verwandten, die bereits gestorben sind und damit endet, dass er noch eine Tochter im „Kirovskiij Rayon“ hat, deren Adresse er allerdings nicht kennt und deswegen nicht machen kann) Natürlich möchte ich nun mit Marco sprechen.
- (leicht entnervt, weil eigentlich im Begriff gewesen abzuspülen, zu lesen oder eine Email zu schreiben) Wieso das denn?
- Nun ja, man sagt ja immer: „Das Gott ihm Gesundheit gebe!“. Er hat mich ja damals aufgenommen und nun will ich natürlich wissen, was aus mir wird.
- Wie? –„was aus dir wird“?
- Also, ich kann ja nirgendwohin. Mit den Beinen komme ich ja nur noch auf die Straße und da nimmt mich dann entweder die Polizei in Gewahrsam – ich habe ja keine Dokumente – was soll man schon ohne Dokumente machen? Oder die Jugendlichen – du weißt ja selbst wie die heutzutage sind – bringen mich um. Deswegen wollte ich wissen – Marco hat ja so viele Bekannte – vielleicht kann mich da ja jemand aufnehmen oder operieren an den Beinen, damit ich besser laufen kann, dann könnte ich natürlich arbeiten gehen, aber zunächst muss ich wissen was aus mir wird. Marco hat dir nicht gesagt, wann er vielleicht vorbeikommt?
- Nein, er hat mir nichts gesagt, aber ich glaube nicht, dass…
- …nein, ich habe gefragt, ob er nichts gesagt hat, darüber, wann er kommt.
- Ich weiß was du gefragt hast und sagte ja bereits: „Er hat mir nichts gesagt“. Ich glaube aber nicht, dass er dich auf die Straße setzt.

3. Erster Trugschluss.

- Ja, ich will ja aber wissen was aus mir wird. (Pause) Ich sag mal so: Das Gott ihm Gesundheit und ein langes Leben gebe und dir auch.
- Danke, Pascha, dir auch.
- Nein, ich sagte, „dass Gott dir ein langes Leben und Gesundheit gebe“.
- Ja, danke. (Pause)
- Hm… Natürlich muss ich mich bei Marco bedanken. (4. zweiter Trugschluss, denn nun wird ein beliebiger Teil aus der angeblichen Vergangenheit mit Marco wiederholt).
- Ja, Pascha, willst du eigentlich noch Tee?
- Ja, gern.
5. Ende.

(Ich gehe an dieser Stelle in die Küche, um ihm Tee zu kochen, komme wieder und es schallen mir bekannte Worte entgegen: „Entschuldige mich natürlich“ – das Spiel kann der Alte zwei ganze Tage lang durchspielen. Irgendwann freut man sich dann auch gehen zu dürfen.)
Auch mit dem Hund hatte ich so meine liebe Müh’. Wohin ich auch ging, ich hatte immer dreckige Hosen, da der Köter alles und jeden anspringt. Erst wenn man ihm ein paar Mal auf die Nase gegeben hat gibt er endlich Ruhe, aber dann ist die Hose natürlich schon nass. Wenn ich nun die Katze füttern musste stand ich vor dem nächsten Problem: Hund und ich draußen – Katze drinnen. Tür auf. Ich drin. Katze drin.
Hund drin. Gebell, Gefauche und zwanzig Minuten später habe ich die Töle dann endlich aus dem kleinen Werkraum raus, um dem dürren Wollknäuel das Ihrige zu geben. Wenn ich dann wieder rein kam hatte ich zumindest kurz Ruhe von Pascha, da der mich noch aus dem Werkraum mit dem Hund auf Englisch, Deutsch und Russisch hat fluchen hören und darauf verzichtet mit mir zu reden, um mich stattdessen mit großen Augen (noch größeren als die Brille sie eh schon erscheinen lässt, was ihn dann vollends zum Frosch macht, aber einem niedlichen, den man trotz der wenigen, verfaulten Zähne im Mund am liebsten knuddeln würde, wenn das verbliebene Menschliche an ihm verbunden mit meinem Respekt vor dem Alter keine Hürde darstellten) anzusehen. Beim Schneefegen kam dann das nächste Problem auf mich zu: Der junge Pitbull jagte mir die ganze Zeit hinterher und als ich ihm genug auf die Schnauze gegeben hatte, dass er nicht mehr an mir hochsprang, begann er mir in die Waden zu beißen, was auch alles andere als ersprießlich ist, gerade wenn man bedenkt, dass ich just meine Rolling-Stones-Lieblingsplaylist angeschmissen hatte. Zur Strafe begann ich dann dem Hund ein paar Verschen von „Under My Thumb“ vorzubrummen, die auf ihn bezogen Wunder wirkten (oder waren das vielmehr meine Drohungen mit der Schneeschaufel?), da er sich so langsam auch „unter meinen Daumen“ drücken ließ und endlich den Beißereien den Laufpass gab. Problem Nummer drei als ich dann den Schnee durch das Tor nach draußen befördern wollte, da der kleine Kläffer sofort einem der vielen Straßenköter hinterherlief und ich minutenlang am Tor verweilen musste und ihn mit süßen Worten und fettigem Essen schließlich doch noch reinlocken konnte. Nun begann ich den Schnee einfach so mit der Schaufel über die Mauer zu werfen, wobei das gar nicht so schlimm schien, als ich endlich in eine gewisse Robotermechanik verfallen war, die im Grunde aus einer einzigen, schwunghaften Bewegung bestand. Man kann sich denken was nun kommen musste: Der Hund hat schließlich kein Quäntchen Verstand im Kopf und treibt selbigen, getrieben von irgendeinem untergründlichen Interesse getrieben, in meine Schwungbewegung, wovon ich natürlich erst Notiz nehme, als ein lautes Jaulen neben mir ausgestoßen wird. Zum Glück ist das Vieh ein außerordentlich dummes Exemplar (vielleicht gibt es da Preise zu gewinnen, ich werde mich mal erkundigen) und vergaß meinen Fehltritt – oder vielmehr seinen – schnell ohne nachtragend nach mir zu knurren oder zu kläffen.
Im Grunde kann man sagen, dass meine Tage dort aber recht in Ordnung waren, da ich mal etwas Zeit für mich hatte, wenn Pascha und die Tiere keine Probleme bereiteten, und spannte so ein wenig aus. Für die Viecher und Pascha muss die Zeit auch angenehm gewesen sein – ich habe zumindest alles gegeben – okay, ein Fisch hat in meiner Regierungszeit den Löffel abgeben müssen und ich habe einen Küchenfreund verschmort. Der Fisch ist meines Erachtens dabei selbst Schuld wenn er nicht frisst und bei dem Küchenutensil ist es mir immer noch ein Rätsel was genau da geschmort ist, da das Ding aus Metall und Holz bestand und ich es lediglich fünf Minuten an der Pfanne vergessen hatte – wohl sehr billig eingekauft. Bisher hat sich zumindest noch niemand bei mir beschwert und ich denke, ich habe dort ganz ordentlich hausgehalten.

Von Beschäftigungslosigkeit ermüdet mache ich nun Schluss, hoffe unterhalten und informiert zu haben, gehe essen und sage: Bis die Tage, wenn ich wieder zu ein paar Zeilen kommen werde.



Jörg

Sonntag, 20. Januar 2008

Elysta – Buddhismus und Bauchweh

Nun mache ich mich, frisch aus Elysta zurückgekehrt wieder daran einen Artikel zu schreiben. Gerade vor ein paar Minuten habe ich mich mit „New Old Songs“ versorgt. „New“, weil ich die ganzen Kisten nicht hatte, „old“ weil die Klamotten vor circa sechs Jahren zu meinen Lieblingsliedern gehörten und nun habe ich sie endlich (mal – ich erinnere mich, dass Lars sie mir vor etwa zwei Jahren brennen musste) wieder. Die Rede ist von einem der wohl längsten Alben, die je produziert wurden: Limp Bizkit: „Chocolate Starfish and the Hot Dog Flavored Water“. Dieses Meisterwerk des „Dicke-Hosen-Rocks“ musste David mir besorgen. Der hatte das nämlich noch in einer CD-Sammlung mit. Also zurück zum Thema. Ich mache mich nun mit viel „Fuck“ an die Beschreibung meines Wochenendes in Elysta.
Am besten beginne ich am Donnerstagabend. Ich hatte morgens vom Arzt die Bestätigung erhalten, dass meine Magenschmerzen wohl mit einer Diät und meine Kopfschmerzen mit ein paar Tabletten zu bekämpfen seien. Erleichtert rief ich David an. Die Parole – so kurz wie prägnant: „Kauf dir ´n Ticket – wir können fahren!“ Müde vom anderen Ende der Leitung: „Mach` ich morgen. Werde erst abends ankommen. Nachmittags noch was zu tun.“ Dann schnell die Sachen gepackt und geduscht, um morgens früh um halb sieben das Haus verlassen zu können, damit ich gegen alle Maschrutka-Unpünktlichkeiten gefeit sein würde.
Ruslan hatte sich bereit erklärt mich am Busbahnhof abzuliefern und so warteten wir schließlich gemeinsam in dem schmutzigen Gebäude auf den Autobus, der mich nach Kalmykien bringen sollte. Schnell noch ein paar Kekse eingekauft und dann ging es auch schon los. Als ich in den (im Übrigen sehr sauberen und warmen) Bus stieg ging mir sofort das Herz auf. Ich hatte den Premiumplatz direkt in der zweiten Reihe leicht versetzt hinter dem Fahrer, von dem man wunderbar nach vorne gucken kann, um die verschneite Landschaft zu betrachten, die sich dann – soweit der Plan – mit ein paar netten Riffs von den Stones und Leningrad zu einer unendlichen aus der Maschrutka blickend zu erobernden Weite verbinden sollte. Ich saß noch nicht ganz mit dem pelzbezogenen Hintern (ich trage mittlerweile eine pottenhäßliche aber höllisch warme Schuba) auf meinem Platz, als Anzeichen vom Fahrersitz mir das Ende meines Tagtraumes andeuteten. Der etwa fünfzigjährige Wagenführer hatte sich danach erkundigt, ob er mein Gepäck nicht in den Kofferraum packen sollte, worauf ich antwortete, dass das nicht nötig sei, da ich eh noch mal dran müsste. Ohne Akzent bekomme ich das allerdings immer noch nicht rüber, sodass der werte Herr sofort einen Grund sah seine Aufmerksamkeit auf mich zu fokussieren. Als Deutscher in Russland bin ich schon daran gewöhnt ein bisschen „besonders“ zu sein, zumal ich auf die Frage, ob ich Tourist sei, immer wahrheitsgemäß mit „nein“ antworte, was den Leuten hier immer sehr merkwürdig vorkommt. So hatte ich die Worte in meinem Mund bereits in Schlachtordnung positioniert, um meinen Traum von paradiesischen Weiten in weißem Einklang zwischen Ipod und mir zu verteidigen. Der Kampf begann: „Woher kommst du?“ „Deutschland“. Ruhiges Abtasten wie viel das Gegenüber wissen will. Hin und wieder kann es damit schon getan sein. Gerade für jüngere Russen sind Amerikaner interessanter, aber bei dem Alten half die kurze Antwort natürlich nichts. „Tourist? Was machst du hier?“ – nichts was man nicht schnell noch beantworten könnte, bevor wir aus der Stadt heraus sind. Aber ich hatte nicht mit diesem Wissensdurst gerechnet. Er wollte wirklich alles wissen. Wie alt ich sei, wie lange ich noch hier sein werde, wie lange ich schon sei, was alternative Dienste seien, wie lange man in Deutschland zur Armee müsse, ob ich nicht zustimmen müsste, wenn er sagt, dass die Deutschen bald auch alle in den Irak ziehen würden, ob in Deutschland die Straßen auch so schlecht seien wie in Russland, Komplimente, dass ich so ordentlich sei und das Papier meiner Kekse in meinen eigenen Rucksack zurückstecke, anstatt es wegzuwerfen, ob ich schon wisse, dass in Russland alle Menschen korrupt seien, dass es so viele Probleme mit Drogen gibt, ob das in Deutschland auch so sei, bla, bla, bla. Irgendwann musste ich alles auf eine Karte setzen: Der große Schlag musste her, auch wenn er zum Super-GAU werden könnte, in dem Fall, dass ich ihm damit zu nahe treten würde. Aber in einem günstigen Moment, als er just keine Frage parat hatte, nahm ich mir schnell die Stöpsel und drehte die Mucke einfach auf. Als ich sah, dass seine Blicke durch den Rückspiegel wieder die meinen suchten, beschloss ich mich schlafend zu stellen. Das funktionierte. Leider aber nur zu gut. Ich hatte kaum die ersten paar Songs durch und begann das Szenario auf mich einwirken zu lassen, als mir die Augenlieder zufielen und ich erst wieder in einer recht runtergekommenen Gegend wieder aufwachte. Das bekam der Fahrer natürlich auch mit und begann sogleich wieder mich anzuquatschen, was ich aber durch intensives Kopfnicken im Rhythmus irgendwelcher Beats am Ende meiner Playlist abwehren konnte. Etwa zwei Stunden vor Elysta bemerkte ich dann den zweiten Nachteil meines Platzes: Der Fußraum war geradezu ein Witz. Dreißig Zentimeter lassen einen nach vier Stunden Fahrt schon mal Parallelen zu Legehennen ziehen. Als ich dann endlich aus dem Bus aussteigen durfte (auf den letzten zwanzig Kilometern gewann der Busfahrer dann doch noch gegen die Queens of the Stoneage), machte sich ein großer Begriff in meinem Kopf breit: Erlösung. Jetzt konnte der Urlaub beginnen. Kein nerviges Gequatsche, soviel Beinfreiheit wie ich will und befreit von der Nikotinabstinenz während der Fahrt.
Elysta selbst schien zunächst eine recht gewöhnliche russische Stadt zu sein: Plattenbauten, schlechte Straßen, stinkende Autos, überall kleine Tante-Emma-Lädchen, in denen man das Nötigste einkaufen kann. Vielleicht ein bisschen sauberer als der Stadtteil Wolgograds, in dem ich wohne und ein paar mehr Kreisverkehre (die in Russland eine umgekehrte Vorfahrtsregelung haben, weswegen die recht verwirrend sind). Als ich mich aber kurz umsah auf dem Busbahnhof sprang sofort ein großer Unterschied ins Auge. Wenn ich recht auf die Uhr gesehen hatte konnten wir noch nicht in China sein, während die Leute alle sehr asiatisch aussahen. Sofort erinnerte ich mich an ein Gespräch vor zwei Tagen, als man mir sagte, ich könne mir eine Reise in den fernen Osten sparen, wenn ich nach Kalmykien käme. Diese Bauernweisheit sollte sich bewahrheiten. Gerade bei den Kurztrips durch das Zentrum offenbarte sich die buddhistisch geprägte Kultur der Stadt. Ob Straßenlaternen, Denkmähler oder Tempel – Elysta zeigt an jeder Ecke seinen asiatischen Einfluss.
Bei Alberta angekommen gab es erstmal ein Wiedersehen mit Svetlana, Katja, Tonja, Ilja und Elsa. Ich kannte bereits alle von Besuchen in Wolgograd und nun hatte ich es endlich zum Gegenbesuch geschafft. Um kurz die Personen vorzustellen: Katja ist ein junges Mädchen von vielleicht 16 Jahren und fällt manchmal in eine gewisse Manie, weswegen sie schnell von himmelhoch-jauchzend zu tief-traurig wechselt. Meist spielt sie allerdings nur, was es anfangs nicht unbedingt leicht macht zu erraten, was nun echt und was übertrieben dargestellt ist. Svetlana sitzt im Rollstuhl, da sie keine Beine hat und muss in etwa Katjas Alter sein. Sie lernt in der Schule ein paar Brocken Deutsch, die sie auch gern präsentiert. Tonja hat das Down-Syndrom und steht total auf Männer, weswegen sie sich das ganze Wochenende tierisch gefreut hat, da außer Ilja und Giacomo, einem vor kurzem eingetroffenen italienischen Freiwilligen, auch noch David und ich da waren, sodass sie immer genügend Aufmerksamkeit für sich beanspruchen konnte. Ilja hat beinahe das Drogenentzugsprogramm abgeschlossen und macht nun seine letzten paar Wochen bei Alberta in Elysta. Er braucht eigentlich nur noch den Führerschein zu machen (als Zeichen dafür, dass man sich wieder komplett integriert hat) und kann dann gehen wohin er will. Elsa ist so etwas wie eine Haushälterin und lebt einfach so mit im Haus. Sie kümmert sich besonders wenn Alberta nicht da ist um Tonja und Svetlana.
Nun, was haben wir so unternommen? Die meiste Zeit über saßen wir eigentlich nur im Haus und haben gespielt. Hört sich langweilig an, kann allerdings ganz witzig sein, wenn man bedenkt, dass ich hier in Wolgograd höchstens hin und wieder mal Karten zu Gesicht bekomme. So war Risiko mal ein echtes Erlebnis. Ansonsten konnte ich mit meinen neu erworbenen Fähigkeiten beim „Durak“ glänzen. In der Stadt gibt es eigentlich nicht viel zu sehen. Ein paar Buddha-Statuen, eine Art Tempel und den „Hrul“ – das buddhistische Glaubenshaus. Sicher wussten wir auch vorher schon, dass man der großen, goldenen Statue des Gottes nicht den Rücken zuwenden darf, aber es war einfach zu verlockend bis ganz nach vorne zu gehen und alles aus der Nähe zu betrachten. Den ganzen Weg mussten wir aber natürlich rückwärtsgehend wieder zurücklegen, was dann weniger spaßig war (vor allem weil überall niedrige Bänke im Weg stehen). Ansonsten kann ich mit Bestimmtheit sagen, dass mir die Erfahrung dort teuer war, aber ich froh bin nicht Buddhist zu sein, da so viel Glanz und Glamour in tausend Farben einfach nicht mit Glauben vereinbar ist (zumindest meines Erachtens nach). Klar kann man sagen, dass mein Geschmack von meiner Kultur geprägt ist und ich deswegen ein paar Probleme mit den vielen bunten Schnörkeln hatte, aber es gibt schließlich auch Europäer, die auf asiatische Kultur abfahren. Zu diesen gehöre ich sicher nicht. Eine kleine Statue aus rotem Stein musste schließlich als Andenken doch noch her. In demselben Souvenirladen habe ich dann auch endlich meine Knauserigkeit überwunden und mir einen schönen Flachmann mit Lederbezug gekauft, auf dem CCCP und Hammer mit Sichel eingraviert sind. Werde ich ironischerweise wohl weniger in Russland als später zuhause in Deutschland gebrauchen, aber was soll’s.
Der zweite Tag sollte sich etwas schizophrener gestalten. Morgens war noch alles in bester Ordnung. Nach der Messe kam ich endlich in ein Internetcafé, um ein paar Mails nachzusehen, als schon zum dritten oder vierten Mal an dem Vormittag der SMS-Jingle meines Handys ging. Entnervt öffnete ich die Nachricht, um sie (als ich gesehen hatte, dass sie auf Russisch war) sofort an Katja weiter zu geben mit der Order sie durchzulesen. Als ihre Augen immer größer wurden war mir schnell klar, dass irgendetwas Außergewöhnliches drin stand. Und so war es dann auch: Völlig unverhofft und unvermittelt stand dort geschrieben, dass ich ein Handy gewonnen hatte. Alles was ich noch zu tun hatte war mich zurückzumelden, um meine Anschrift weiterzugeben. Das wurde dann auch prompt erledigt – Probleme folgten auf den Schritt. Sicher war es ja mein Handy, aber die Sim-Karte gehörte nicht mir, sondern Ina, einer Caritas-Mitarbeiterin, da ich als Ausländer keine russische Sim-Karte besitzen darf. So begann ich schleunigst nach Wolgograd zu telefonieren, um Inas Vater- und Familiennamen zu erfahren. Die ging aber leider nicht ans Telefon, weswegen ich schon aufgeben wollte, als mir einfiel, dass ich noch Sergejs Nummer besitze. Der Junge besucht nämlich schon seit einiger Zeit das Kinderzentrum und konnte mir auch direkt die richtigen Daten nennen. Mit Informationen im Kurzzeitgedächtnis riefen wir erneut an. Diesmal gab es die Anweisung eine Bilain-Telefonkarte zu kaufen, aber nicht zu benutzen. Nachdem auch das geschafft war, riefen wir wieder an und – siehe da – meine Anschrift wurde endlich notiert und ich bekam mitgeteilt, dass binnen einer Woche das Handy in Wolgograd sein wird. Ich sollte einfach mit Ina zur Post kommen und mein Geschenk abholen. Aber das ist noch nicht alles: Außerdem werden mir noch 6000 Rubel auf meine Karte gutgeschrieben. Ich weiß was ihr denkt: Das war alles nur eine nette Verarschung und nun habe ich kein Geld mehr auf dem Handy. Aber dem ist nicht so und so hoffe ich in ein paar Tagen endlich benachrichtigt zu werden. Wäre ja gar nicht mal so schlecht.
Der nächste Teil des Tages wurde von meinen geliebten Magenschmerzen überschattet, die mich direkt nach dem Essen zu einigen Spaziergängen in Richtung Toilette zwangen. Trotzdem ließ ich mich schließlich noch zum Schlittenfahren überreden. Keine gute Entscheidung. Nachdem wir etwa eine halbe Stunde gerodelt waren gingen die Krämpfe wieder los und ich wollte mich direkt wieder in stillere Gefilde begeben, als ich mich, nach einem geeigneten Platz umsehend, mitten in der Service-Wüste wieder fand. Im nahe gelegenen Schwimmbad durfte man ohne Eintrittskarte nirgendwohin und da nachmittags nur Kinder eingelassen wurden, konnte ich mir noch nicht einmal eine Karte kaufen. Toll. Russland. Auf also zum nächsten Pub – dort muss man doch Erlösung bekommen können. Aber dort wurde mir kurzerhand erzählt, dass es überhaupt keine Toilette gebe. Was übrig blieb war klar: Eine kleine hölzerne Baracke die man getrost Scheißhaus nennen darf. Als ich die Tür aufstieß kamen mir die Verwesungsgerüche von Sodom und Gomorra entgegen. Ein Blick in die „Kloschüssel“ (oder das Loch) ließ beißende Säure aus diversen Drüsen in meinen Magen fließen und die Speiseröhre machte sich zum Würgeakt bereit. Ich verzichte an dieser Stelle auf weitere Ausführung des Innenlebens der Baracke – denn es war wirklich beinahe ein Innenleben – um den geneigten Leser nicht voll und ganz in meine Situation zu verfrachten. Hin- und her gerissen zwischen einer Komplettentleerug und dem verfrühten Abmarsch Richtung Haus entschied ich mich schließlich für letzteres. Mit ein paar Tabletten und Kamillentee (sowie einer nun strenger eingehaltenen Diät) kam ich dann auch dem Magen bei und verlebte die beiden verbliebenen Tage ruhig und lustig in Elysta. Gerade abends tat es wirklich gut endlich mal wieder Deutsch sprechen zu können, da Giacomo, der eigentlich immer mit David und mir herumhing, aus Bozen kommt und somit auch recht ordentlich die Sprache der Dichter und Denker beherrscht.
Als ich am Dienstag dann schließlich von Ilja und Giacomo (David war schon früher gefahren) zum Busbahnhof gebracht wurde graute mir Übles: Ich hatte ein und denselben Autobus und natürlich auch meinen Fahrer vom Freitag. Diesmal stellte ich allerdings aus Müdigkeit auf stur: Stöpsel in die Ohren und Augen zu. So verstrichen wieder die Stunden bis ich endlich wieder in meinem geliebten Wolgograd war.
Fazit: Elysta ist die Reise wert gewesen, aber zuhause ist es immer noch am besten. Nur zu gut, dass ich mittlerweile schon zwei Plätze habe, die ich so nennen darf.




Ich werde mich demnächst an die nächste Story begeben, die sich heute zugetragen hat, aber im Moment bin ich zu müde, um sie direkt niederzuschreiben. Weswegen erfahrt ihr in ein paar Tagen.

Donnerstag, 10. Januar 2008

Kinderzentrum mit gemischten Gefühlen

„Die klebrigen Banditen“, die Hexe aus „Hänsel und Gretel“ und ich haben manchmal eins gemeinsam – wer errät ’s?
Richtig! – Kinder. Hin und wieder können einem die lieben Zwerge schon wirklich auf die Nerven gehen. Entweder werde ich einen ganzen Nachmittag damit belagert, was verschiedene Schimpfwörter auf Englisch, Französisch oder Deutsch heißen oder die Kinder wollen wissen, ob ich Prostituierte kenne oder sie aufsuche. Wenn ich ganz viel Glück habe, bekomme ich auch mal ein Pornovideo auf einem Handy vorgespielt. Dass da schon mal ein Tag als „gelaufen“ abgehakt werden muss, braucht man wohl nicht weiter zu erläutern: Gerade wenn man denkt, dass man einen Schritt geschafft hat, beweisen einem die Kleinen auf grandiose Art das Gegenteil. Auch in anderer Hinsicht laufen die Kinder im Winter Amok: Da wird in der Mensa eine Schneeballschlacht angezettelt oder herumgeschrieen oder ein Stuhl umgeworfen, weil man nicht sofort seine Suppe bekommt. Da sie das aber natürlich nie hundertprozentig bösartig meinen, scheue ich mich bisher nur noch ein wenig wirklich mit beiden Händen dazwischen zugehen, auch wenn Elena und Ina das ganz gern sehen würden, wie mir scheint.
Es gibt aber auch wirkliche Entwicklungen zu erzählen, die mich durchaus stolz machen. So war ich vor kurzem sowohl bei Slava als auch bei Sergej zuhause eingeladen. Slava wohnt im Grunde gar nicht so schlecht. Er lebt mit seiner Mutter in einer kleinen Wohnung in einer der Hinterlassenschaften der Sowjetära – dem Plattenbau. Dort gibt es ein Badezimmer, eine Toilette, eine Küche, sowie ein Zimmer für Slava allein und eines für seine Mutter. Wenn man eintritt, steht man sogar noch zunächst in einem kleinen Flur mit Garderobe und Telefonschränkchen. Klar, die Mutter arbeitet wohl jeden Tag von früh morgens bis spät abends und Slava spielt viel Computer und sieht eine Menge fern (sowohl PC als auch Fernseher hat er auf seinem Zimmer), aber er ist eigentlich ein guter Junge. Er sucht sich eine eigene, ordentliche Perspektive. So geht er regelmäßig zum Kung-Fu, wo er schon einen weißen und einen schwarzen Gürtel erworben hat. Von seinen Tricks hat er mir natürlich auch direkt ein paar vorgeführt: Kicks in die Luft, turnen an der Stange oder auf Einmachgläsern durch die Gegend laufen. Slava kennt sich ganz gut aus. In einer Runde Counterstrike habe ich ihm dann gezeigt, dass ich noch nicht ganz so eingerostet am Zeigefinger bin. Danach habe ich noch die Bekanntschaft seiner Katze gemacht (schneeweiß und sehr sympathisch – gibt keinen Laut von sich).
Im Vergleich dazu gibt es bei Sergej nicht so viel Raum. Der Junge wohnt mit seiner Mutter in einer Kammer, die so groß ist wie die Küche bei mir zuhause in Deutschland. In den so genannten „Herbergen“ geht es zu wie bei uns in Jugendherbergen: Jede Familie hat einfach ihr eigenes Zimmer – mehr nicht. Gut, kann man sagen, es geht allerdings noch schlimmer als bei Sergej, wenn beispielsweise drei Kinder mit ihrer Mutter leben (alle von verschiedenen Vätern) und auch ein Mann noch in dem Raum schläft, der aber wiederum von keinem der Kinder der Vater ist. Da kommt nachts sicher Freude auf, wenn es darum geht wer wo schlafen soll, denn durch flüchtiges Überschlagen hätte ich gesagt, dass selbst auf dem Fußboden nicht für alle Platz wäre. Nun, Sergej hat sein eigenes Bett, aber dafür ist seine Mutter auch die einzige Person, die für Geld sorgt, was natürlich an allen Ecken und Kanten sichtbar und ihm ein wenig peinlich ist. Gekocht und geduscht wird im Übrigen gemeinschaftlich auf dem Flur. Aber zurück zu meinem Besuchstag. Es wurde sehr lecker aufgetischt (Russische Waffeln mit selbst gemachter Marmelade und Tee), hinterher sind wir Rodeln gegangen und haben schließlich ein wenig ferngesehen, Hausaufgaben gemacht und ich habe mich mit der Mutter über dies und jenes unterhalten. Sie hatte einmal eine Brieffreundin in Deutschland, sagte sie. Nachdem diese aber umgezogen sei, hätten sie sich nicht mehr geschrieben, wobei sie so gern wissen würde, wie es ihrer Bekanntschaft jetzt geht. Besonders in den letzten zwanzig Minuten, die ich mich mit der Mutter unterhielt, bemerkte ich, wie stark ihr Mitteilungsbedürfnis war. Wenn ich zur Uhr sah oder kurz einwarf, dass ich eigentlich schon lange wieder hätte fahren müssen, wurde schnell wieder ein anderes Thema ausgegraben, betont, dass ich für den ganzen Tag eingeladen sei, Tee eingegossen oder auf etwas hingewiesen, sodass ich doch noch ein wenig bleiben sollte. Was Mut macht ist, dass Sergejs Mutter trotz allem noch nicht aufgegeben hat zu hoffen: Auf eine eigene Wohnung in einem der Außenbezirke der Stadt, auf bessere Arbeit, auf Freunde, die helfen. Sie klagt mit der Bitterkeit der Rechtfertigen, wenn sie betont, wie Bekannte zu Geld gekommen sind – schmutzigem Geld, aber eben genug, um ein Haus zu bauen, um etwas aus ihrem Leben zu machen. Fast mit schlechtem Gewissen nahm ich dann zum Schluss eine Tüte voller Waffeln, die ich nicht aufbekommen hatte, mit und verabschiedete mich von den beiden. Da ich bereits die nächste Einladung zu einem Tag meiner Wahl in der Tasche habe, denke ich, dass ich die über kurz oder lang sicher noch mal besuchen werde, um dann ein bisschen mehr mitzubringen als Milkaschokolade, auch wenn sie sich darüber schon sehr gefreut haben.
In den nächsten Wochen werden wir eine große Sportaktion starten, wenn ich das richtig verstanden habe. Ob ich mich da so sehr engagieren werde, bleibt aber noch mal abzuwarten, da ich bei minus 20 sicher nicht Fußball spielen werde.
Das soll’s erstmal gewesen sein, liebe Grüße an alle, die das lesen und ich hoffe, ihr seid gut ins neue Jahr gekommen.


Jörg

Von Bäumen mit Make-up und hektischer Hektik

Sonntag. Das ist Kirche. Das ist um 9:30 Uhr aufstehen, um noch schnell das Haus zu wischen, bevor man sich duscht und die Zähne putzt, irgendwo dazwischen frühstückt und dann ins Stadtzentrum fährt. Das ist schöne braune Halbschuhe einmal in der Woche vor dicken schwarzen Betontretern vorziehen dürfen, weil man nur ganz kurz in der Kälte steht. Das sind etwa 35 Minuten Predigt über die Schlechtigkeit des Menschen und den ständigen Sündenpfuhl. Das ist mit Anatoli zur Kommunion gehen. Das ist Pjelmini zum Mittag. Das ist ein kaum endender Nachmittag in gammeliger Langeweile. Sonntag ist abends kein South Park und kein guter Spielfilm.
Aber ein Adventssonntag sollte doch anders sein. Er ist ja schließlich kein „normaler“, kein Durchschnittssonntag. In Deutschland ist er das auch nicht. Da wird Sonntag zu besonders thematisiertem Sonntag. Da gibt es Wichteleien und Weihnachtstreffen von verschiedenen Vereinen, da wird schon überlegt, was man zu Weihnachten verschenken kann und Schmuck aufgehängt. Das Rot und Grün prangt einem entgegen: „Bald ist Weihnachten“ ruft jeder Schokoladen-Nikolaus, der epileptisch-leuchtende Weihnachtskitsch in den Fenstern und manchmal auch eine zarte Schicht von himmlischem Weiß. Wenn es letzteres nicht gibt, lässt man es sich zur Not durch tausend andere Möglichkeiten anzeigen.
In Russland sieht das anders aus. Sicher kann man sagen, dass das damit zusammenhängt, dass hier viele Menschen orthodox sind und daher in der Adventszeit noch nicht soviel in Richtung Weihnachten geschieht und dass für die Russen das Neujahrsfest wichtiger ist als Weihnachten im Allgemeinen. Aber das nimmt der Situation den Reiz und die Realität. Denn als jemand, der das Weihnachtsfest bis in die Tiefen der kapitalistischen Vermarktung hinein jedes Jahr erlebt hat, bietet sich ja nicht zunächst der Grund für den Unterschied, sondern der Unterschied selbst dar.
Hier findet man keinen Schmuck in den Fensterläden, keine mit tausenden von Glühbirnen beleuchteten Straßen oder ein verzeichnenswertes Aufkommen roter Zipfelmützen. Nur die Coca-Cola-Werbung ändert sich zu Weihnachten auch in Russland. Sonst bleibt alles gleich. Die Kälte bleibt kalt. Schnee und Eis bekommen hier einfach keine Kamin-Romantik. Im Gegenteil laden die Temperaturen eher zum Fluchen ein und wenn man nach einem Arbeitstag nach Hause kommt, ist man nur noch erschossen und will ins Bett.
So kann man eigentlich mit Fug und Recht behaupten, dass wir hier eine richtige Adventszeit gar nicht gehabt haben. Zumindest keine, wie ich sie aus Deutschland kenne. Dafür aber hatten wir auch kaum gezwungen-lustige Atmosphären bei Weihnachtstreffen, die eigentlich jedem zuwider sind, keine Geschenke-Last-Minute-Einkaufen-Hektik oder Besinnlichkeitsfassaden in Form von Massen an gekauftem Rot und Grün. Einmal von dieser Perspektive betrachtet, verliert der verlorene Advent seine Attraktivität und es ist gar nicht so schlecht, ihn mal so zu erleben: Simpel und entzaubert. Oder echt und ohne Kitsch. Ich stimme eher letzterem zu.
Gut, ganz ohne Kitsch sind wir dann doch nicht ausgekommen. Ohne den Geschmack meiner Mitbewohner beleidigen zu wollen – die Tanne, die immer noch in unserem Wohnzimmer steht, ist echt mal hässlich. Da hängen mehr Kilogramm Plastik-Nadeln als echte dran und die Lichterkette ist bunt und blinkt. Scheint sich allerdings wohl um russisch-typische Modeverirrungen zu handeln. So sieht man beispielsweise auch in der Kirche Entwürfe eines Glamour-Trees, der möglichst abwechslungsreich aufleuchtet und mit Tonnen irgendwelchen Mülls behangen ist. Die Krippe im Gotteshaus sollte zunächst sogar einen Springbrunnen beinhalten, worauf ich fast scherzhaft bemerken wollte, ob wir nicht auch ein paar Palmen drum herum und Fische in einen Teich platzieren sollten. Mir ist aber noch rechtzeitig eingefallen, dass jemand den Vorschlag ernst nehmen könnte und habe somit noch die Klappe gehalten.
Das Neujahrsfest ist hier dafür der ganz große Renner. An keinem anderen Tag wird wohl so viel Geld für Essen und Alkohol ausgegeben wie an Sylvester. Wir haben das Fest ganz beschaulich verbracht. Vor- und nachmittags haben wir uns ausgeruht, abends dann erstmal sehr gut gegessen. Marco hat erst Kanapees vorbereitet, dann italienische Bandnudeln mit Pilz-Rahmsoße und schließlich Erbsen mit Speckstücken und Hühnchen. Interessant war, dass man uns so gegen sechs Uhr den Strom abgedreht hat, sodass das ganze Abendessen im Kerzenlicht stattfinden musste. Die nächsten drei, vier Zigaretten wurden auch noch im Schein einer Laterne geraucht, bis wir dann zu Davor rüber gegangen sind, um dort weiter zu feiern. Dort hatte sich über die Feiertage Alberta aus Elysta mit den Kindern ihres Hauses einquartiert. Auch wir hatten Besuch. Bahira war aus Moskau angereist und Miriam kam aus Petigorsk. Wer erstere ist müsste ich eigentlich schon mal geschrieben haben. Miriam war vor ein paar Jahren die erste Bistumsfreiwillige in Astrachan und studiert nun in Petigorsk Russisch und Polnisch, um Dolmetscherin zu werden. So waren wir schließlich eine ganz schön große Truppe im Suchtprojekt. Von den Jungs haben natürlich auch alle kräftig mitgefeiert. Ständig gab es etwas zu spielen: Entweder musste man einen Apfel essen, der an einem Faden hing, während man seine Hände nicht gebrauchen durfte oder man musste in einem Kartenspiel Tiere mimen. Um zwölf Uhr gab es dann auch ein kleines Feuerwerk draußen auf der Straße. Hinterher waren wir dann noch ein wenig bei Davor (wo ich mir dann auch noch die ganze Hose eingenässt habe bei einem dieser Spiele, was dem Sternegucken recht nahe kommt. Außerdem musste ich noch „Griechischer Wein“ performen – Volker, ich habe das würdig hinbekommen – und mit Tonja, einem von Albertas Kids mit Down-Syndrom, tanzen). Danach sind wir dann nach Hause gestiefelt, um uns für die Nacht umzuziehen. Aus einer Diskonacht ist aber schließlich nichts mehr geworden, da die Eintrittspreise im Zentrum nicht mehr normal waren (1700 Rubel, etwa 50 Euro) und so sind wir schließlich zuhause geblieben, haben noch bis vier Uhr die Zigarettenschachteln unsicher gemacht und sind dann Richtung Bett verschwunden. Ein bisschen hat mir natürlich an Sylvester der Thrill von ein paar Gläsern Whiskey, Gin und Co gefehlt, das Abhängen mit Leuten, die man schon lange kennt und die dusseligen Aktionen, derer man sich teils selbst erinnert und derer man teils erinnert werden muss. Den Flickenteppichen aus unterschiedlichen Blackouts wieder bei einer Pizza und einem Konterbier am nächsten Nachmittag zu rekonstruieren hat mir immer fast so viel Spaß bereitet wie der Abend selbst. Hier war das Fest ruhiger, aber nicht unbedingt schlechter. Vor allem unter gesundheitlichen Aspekten.
Da ich gerade in Fahrt bin und noch ein wenig hier im Haus herumhängen muss (Erkältung), werde ich mich mal an die nächste Runde begeben.