Magenverstimmung in Russland? Kein Problem! Es gibt gegen alles jede Menge Tabletten und eine Handvoll guter Ideen, was man im Falle des Falles noch alles Lustiges anstellen kann, sollte sich die Verstimmung hartnäckig halten. So auch bei mir. Nachdem ich drei bis vier Monate Diät hinter mir hatte, die kaum geholfen hat, ging ich wieder zum Arzt (dummerweise direkt am ersten Tag, nachdem mein Vater abends vorher angekommen war) und bekam auch sofort einige lustige Pillen verschrieben und sollte am nächsten Tag morgens zum Krankenhaus fahren, um eine Magenspiegelung durchführen zu lassen. Morgens nüchtern auf der Matte, musste ich erst einmal rausbekommen, wo sich denn der Henkersmeister befindet, der mir in den Innereien wühlen sollte. Und so wühlte ich auch ich - im Inneren des Krankenhauses. Die Suche erwies sich als schwieriger als angenommen, da sich manche Ärzte auch fies in Kellergeschossen verstecken können, zu denen es unlogische Ausschilderungen gibt und jede Menge dämliches Krankenhauspersonal, welches die einfachsten Wege nicht erklären kann. Als ich meinen Folterknecht endlich ausfindig gemacht hatte, war ich schockiert: Eigentlich sah er gar nicht so schrecklich bärig aus und hatte eine recht mütterlich anmutende Helferin an seiner Seite (wobei so etwa 90% aller russischen Frauen über 40 sind). Der Mann glänzte durch gute Manieren und brachte mir schonend bei, was mich erwarten würde. Ich solle mich auf die Seite legen, das Handtuch, welches ich mitbringen sollte, unter den Kopf legen, den Mund öffnen und die Betäubung schlucken. Danach sollte ich eine Art Beißring in die Klappe bekommen, durch dessen innere Höhlung dann ein etwa Fingerdicker schwarzer Schlauch geschoben wurde – Stückchen weise mit einigem vor und zurück in den Magen. Gesagt getan: Das Muttchen kam mit dem Spray und ich begann zu schlucken: „Guter Junge“, sagte die Ärztin. „Scheiß Spray“, dachte ich, denn das Betäubungsmittel wirkte etwa so narkotisierend wie ein ordentlicher Schluck Wodka und war wahrscheinlich auch nicht großartig anders zusammengesetzt. Danach ging auch alles nach Plan. Beißring, die schwarze Schlange in den Rachen und mein ständiger Kampf mit dem Brechreiz. Man kommt in dieser Situation unwillkürlich wieder zu den anderen Abschnitten seines Lebens wieder zurück. Die guten, alten Tage übertriebenen Alkoholgenusses, in denen man mit aller Geistes- und Körperkraft irgendetwas wollte (etwa andere Menschen davon überzeugen, dass man nicht betrunken ist), es aber einfach nicht bekommt, im Gegenteil merkt, dass alle Anstrengung einen nur reizt und vom Ziel entfernt, alsdass man näher käme, um dann wieder langsam Kontrolle über den berserkerartig, scheinbar fremdkontrollierten Körper zu gewinnen. Etwa so kämpfte ich mit den Inhalten verschiedenster Gallen und Drüsen, die mir die Speiseröhre hochwollten, während doch von oben fatalistisch die schwarze Schlange drohte, die auf ihrem Weg nach unten nicht gerade zimperlich vorging. Nachdem schließlich auch eine Probe meiner Magenflüssigkeit genommen war, kam die Schlange wieder raus. Endlich löste sich das Rätsel um mein Handtuch, das bisher eher unnötig gewesen war, da es mir nur durch eine gewisse Flauschigkeit den Aufenthalt hätte angenehmer machen können, was allerdings auch nur dem Tropfen auf dem heißen Stein gleichgekommen wäre. Nun aber kroch das schwarze Biest aus dem Rachen und war noch nicht ganz aus meinem Mund hinaus, als sich ein interessanter Mix verschiedener Substanzen im liquiden Zustand anschickte ebenfalls seine gewohnte Umgebung zu verlassen und auf meinem schönen, flauschigen Handtuch landete. Nach dem Eingriff hätte mir der Arzt auch erzählen können, dass ich dort fünf Geschwüre hätte, die ich binnen drei Tage in Deutschland operieren lassen müsste – es hätte nichts an meinem glückseligen Zustand ändern können, dass ich das beinlose Reptil mit dem Beißring überlebt hatte. Vom Magen her sieht es nun schon bei weitem besser aus und ich kann fröhlich meinem Urlaub entgegenblicken, den ich in einer Woche mit David nach Moskau und St. Petersburg antreten werde.
Bis dahin habe ich allerdings noch ein wenig Mehrbelastung vor mir, da Marco gestern Morgen nach Italien geflogen ist und ich nun mit Ruslan und Jura allein bei uns bin. Anatoli hatten wir samstags zur Arbeit gebracht, wo wir ihn abends nicht wieder finden konnten, da er, nach Meinung einer alten Dame, die dort immer Grünzeug verkauft, zechen gegangen war. Also hatte Marco die Order ausgegeben, dass, wenn Anatoli betrunken nach Hause kommen sollte, er nicht bei uns schlafen darf, sondern rüber ins andere Projekt in eine „Einzelzelle“ kommt, um Skandale zu vermeiden. Natürlich musste alles schief gehen. Ich telefonierte gestern Abend mit meiner Mutter, als plötzlich jemand am Tor stand. Also sagte ich Ruslan Bescheid, er solle nachgucken, wer dort sei. Natürlich hat Ruslan die Tür gleich so weit aufgemacht, dass Anatoli reinspaziert kam. Auf meine Anweisung musste Ruslan dann schnuppern, um der Alte gesoffen hatte oder nicht, sagte dann aber strunk-doof laut gesprochen, dass Toljan sternhagelvoll sei. Der fing darauf natürlich direkt an zu schreien und um sich zu schlagen. Nachdem ich ihn beruhigt hatte, ging er auch direkt schon ins Haus, um wie gewohnt nun zu essen und sich schlafen zu legen. Da aber klar war, dass Jura ihn noch so sehen würde, musste der Trottel irgendwie wieder aus dem Haus hinaus. Argumentativ konnte man ihn schon nicht mehr überzeugen, also musste ich es unter physischer Einwirkung versuchen, wobei ich ihm aber auch nicht wehtun wollte. Anatoli ist nun aber auch nicht der Hellste, sondern, im Gegenteil, wohl eines der dümmsten Geschöpfe unter der Sonne, und begann zu schreien. Darauf kam natürlich Jura nach unten. Als Toljan sich kurz von mir gelöst hatte und zur Treppe rauf wollte, prallte er direkt gegen den Bären, der ihm nur einmal sagte, er solle sich zum Teufel scheren und als Anatoli nicht begriff, ihn direkt an der Kehle und im Nacken packte und ihn so würgend bis zur Haustür trug, wo ich ihn endlich dazu bewegen konnte, den alten Narren loszulassen. Der konnte erstmal ein paar Momente lang gar nichts sagen, was ich ausnutzte, um ihn rüde einzuhaken und auf die Straße zu schleifen. Danach konnte ich mir noch zehn Minuten sein Gebrüll anhören, bis wir im anderen Projekt angelangt waren, wo ich ihn dann abgab. Da hat er eine ganze kleine Wohnung für sich allein und seine dummen Anschuldigungen. Will mal hoffen, dass ich den bis zum Ende der Woche nicht wieder zu mir nehmen muss, sonst bekommt der noch ein Donnerwetter von mir.
Im Großen und Ganzen nimmt das Leben hier aber seinen gewohnten Lauf. Die Arbeit ist in Ordnung, auch wenn ich mir in letzter Zeit ziemlich viel Blödsinn anhören muss. Dafür werde ich allerdings auch durch andere Aktionen entschädigt, wie letztens, als wir mit der gesamten Belegschaft auf eine Datscha gefahren sind. Nachdem ich zunächst Ina und Irina ein wenig auf der ihrigen geholfen hatte, stießen wir zu den anderen, die sich schon auf dem neuen Schmuckstück von Ludmilla breit gemacht hatten. Sogleich wurden die mitgebrachten Salate und Brote auf dem Tischchen verteilt und ein Feuer für Schaschlik angefacht. Wir begannen so gegen elf oder halb zwölf mit dem Essen und waren so gegen zwei fertig. Da ging natürlich jede Menge an verschiedenen Leckereien dahinter. Auch an Wein und Wodka hatten es die (mit Ausnahme dreier Herren) Damen nicht mangeln lassen. Nach den ersten paar Bechern ging es zum Tanzen, wobei ständig russische Songs aus den 60ern oder noch älter gespielt wurden. Ich kannte davon natürlich einfach mal gar nichts, aber das war auch nicht weiter schlimm, denn die Situation mit leicht betagten Damen bei über zwei Promille die Hüften zu stumpfsinnigem 4/4-Takt zu schwingen bin ich noch von Dorffesten her gewohnt. Als ich irgendwann zu beliebt wurde, entschied ich mich kurzerhand einen kleinen Spaziergang zu unternehmen, bei dem ich Ina und Irina einholte. Nach einer kleinen Meinungsverschiedenheit mit meiner Projektleiterin über die Musik biss diese mir dann mir nichts dir nichts in den Arm, wovon ich noch fast zwei Wochen eine Kruste zurückbehielt. Bisher scheint es mir aber, dass der Biss harmlos war, Ina also als „ungenießbar“, nicht aber als „giftig“ eingestuft werden muss, da ich von Entzündungen verschont geblieben bin. Falls das noch ein Nachspiel haben sollte, werde ich ernsthafte Probleme beim Arzt bekommen, wenn ich dem erzählen muss, dass die Wunde nicht von einem irren Rottweiler, sondern von meiner Vorgesetzten kommt, die so gern das Aushängeschild der katholischen Gemeinde bildet. Aber nichts für ungut. Nach diesem „unangenehmen Zwischenfall“ entschied ich dann, dass die Gefahr einer Safari in der Umgebung der Datscha definitiv höher sei als die, auf dem Gelände von dem Rest der Belegschaft im Rum-Ta-Ta totgetanzt zu werden oder sich einen „Ohrenkrebs“ einzufangen. Zu meinem Glück holte Andrej dann auch bald seine Gitarre raus und wir begannen (es war zwei Tage vor dem 9. Mai) Kriegslieder zu singen – sehr zur Belustigung trug dabei mein voller Einsatz bei, als es in einem Vers soviel hieß wie: „Und schlagen wir dem alten Fritz / In Berlin eins auf die Mütz’“, was ich nur deswegen mitgesungen hatte, da ich die Worte beim lesen nicht so schnell identifizieren konnte, was mir im Übrigen häufiger auffällt, wenn ich beispielsweise Zeitung lese und über den Sinn eines Satzes nachdenke, der sich mir einfach nicht erschließen will, da ich Worte, die mir längst bekannt sind, in Druckform nicht so zügig wie das gesprochene Wort erkenne und einordne. Nachdem sich endlich alle über meine neue russische Seele ausgelacht hatten, durfte ich einen Song bestimmen (den einzigen, den ich kannte): „Podmoskovnije Wetscheta“, was soviel heißt wie „Nächte in der Moskauer Umgebung“ und von dem die Russen denken, dass er in der ganzen Welt bekannt ist. Könnt ja mal schreiben, wenn euch der Titel geläufig ist; wenn sich herausstellen sollte, dass ich eine Bildungslücke habe, mag ich meinen Spott zurücknehmen, aber bis dahin halte ich den russischen Kulturstolz für übertrieben. Zum Ende des Tages hatte ich mich just von dem Mann der „Psychologin“ im Kinderzentrum gelöst, der mir Gemeinsamkeiten zwischen Tanz und Sex nahe legen wollte, was mir bei diesem Herren sehr unangenehm war, da ich ihn mir – unwillkürlich – nachdem ich den Tanz ja schon gesehen hatte, nun auch in der von ihm gewählten Parallele vorstellen musste. Trotz des fünften oder sechsten Glases Wodka konnte ich eine gewisse Reizung in der viel erprobten Magen- und Speiseröhrengegend noch unterdrücken. Sofort hatte ich mir den Mann von Ludmilla gefischt, um mit ihm ein Gespräch über Arbeit, Geld und Hobbys angeknüpft, als auf einmal alle wegliefen, um noch den Bus nach Hause zu erwischen. Zum Glück war der gute Mann auf Draht und ließ mich nicht in der Zwickmühle zwischen Unhöflichkeit und Notwendigkeit stecken, schenkte mir noch eine Schachtel Zigaretten und wünschte mir alles Gute. Rennend erreichte ich dann doch noch den Bus und wäre, wenn nicht russische Straßen mehr aus Schlaglöchern als aus Asphalt bestünden, wohl auch im Stehen eingeschlafen, so aber wurde ich immer wieder wachgerüttelt, durch das wenig periodisch klappernde Auf und Ab unseres Busses. Aus dem Bus ausgestiegen, hatte Ina immer noch nicht genug und konnte mir einfach meine Zigaretten nicht gönnen, die sie mir bis zur Maschrutka-Haltestelle beständig aus dem Mund zog, was ich recht heiter fand, da ich mehr als genug hatte, um mir immer nach zwei Zügen eine neue anzuzünden. Schlechterdings ist Ina bei der Arbeit längst nicht immer so heiter – glücklicherweise aber auch nie so abgedreht.
Wie man sieht, komme ich hier also sicherlich nicht vor Langeweile um und bleibe hoffentlich bis zum 15. heile, um den festen, deutschen Boden wieder zu erreichen. Ich denke, ich werde das nächste Mal wieder berichten, wenn ich aus dem Urlaub wieder da bin, den ich ja heute in einer Woche antreten werde und wünsche bis dahin alles Gute
Jörg
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4 Kommentare:
Hallo Joerg!Wir haben schon lange von die nicht gehört.Endlich bist du da :) .Ich finde die Feiertage;die du erlebst hast,sehr interessant :),etwas ungefähr solltest du erleben.Wegen deinen Magen - nicht gut Junge :( .Ich hoffe,dass deine Urlaubwoche dir viel Spaß bringt.Genieß das Leben.Alles gute Tatjana.
Hallo Joerg!Wir haben schon lange von die nicht gehört.Endlich bist du da :) .Ich finde die Feiertage;die du erlebst hast,sehr interessant :),so etwas solltest du erleben.Wegen deinen Magen - nicht gut Junge :( .Ich hoffe,dass deine Urlaubwoche dir viel Spaß bringt.Genieß das Leben.Alles gute Tatjana.
Hey Jörg!
Ein guter Zufall...soeben treten russische Laue an mein Ohr: Regina Spector versüßt mir den einsamen Abend.
Zurück in BadZwischenahn nach meiner ersten, erfolgreichen Woche Sprachkurs in Groningen muss der Mann natürlich arbeiten. Doofe Sache das...
Das niederländische Klima tut meiner Sprachfertigkeit ungemein gut und ich fühle mich als hätte ich schon eine kleine Ewigkeit in meiner neuen Wahlheimat verbracht, in der ich mich zudem sehr wohl fühle!
Ich schicke dir viele liebe Grüße und wünsche dir noch eine gute, abschließende und abrundende Zeit in Wolgograd sowie im Urlaub!!!
Kathi
Danke,
ihr beide haltet hier auf der Seite wirklich noch mal zur Stange. :)
Ich habe wirklich viel Spass gehabt im Urlaub und verbringe nun meine letzten Tage mit einem dicken Kloss im Magen, der nunmehr aber eher in der gefuehls- als in der medizinischen Gegend einzuordnen ist.
Was ich so im Norden erlebt habe kann man dann oben durchlesen - da steht genug Stoff fuer die ausstehenden 16 Tage.
Danke euch beiden fuer die lieben Gruesse und wuensche euch viel Spass und Glueck.
Auf bald
Joerg
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