Wie sieht mein Alltag nach fünf Monaten aus? Ist die Welt um mich herum noch die gleiche wie bei meiner Ankunft? Bin ich „angekommen“, um diesen pädagogischen Ausdruck noch einmal zu bemühen?
Nachdem nun die Hälfte meiner Zeit hier in Russland aller Planung nach wohl schon um ist, wird es Zeit ein Zwischenfazit zu ziehen. Sicher ist Russland nicht mehr so geheimnisvoll, so völlig anders, so zum-Erkunden, nicht jede Ecke schreit nach einem zweiten Blick, nicht jede Geste fordert ihre Erklärung. Die Sprache, die Menschen sind bekannt geworden, Orte zur Gewohnheit, zur Alltäglichkeit, zu Vertrautem. Ich kann nach Hause kommen und weiß, dass es in einer Stunde Abendessen geben wird. Ich weiß, dass jenes wohl aus Makkaroni, Pizza, Kartoffeln mit Würstchen oder mit Kartoffeln gefüllten Teigtaschen bestehen wird. Ich weiß, dass ich um 8:30 Uhr aufstehen kann, wenn ich nicht duschen will, um noch schnell meinen Griesbrei runter zu bekommen, bevor ich in die Maschrutka muss, um zum Caritas-Wagon zu fahren, ich weiß, dass wenn ich eine Viertelstunde zu spät zur Haltestelle komme, wir mit dem Sammeltaxi in der Rushhour Wolgograds an der Brücke neben dem Bahnhof hoffnungslos zum Stehen kommen werden. Ich kenne alle Beschäftigten des nächstgelegenen Petjoritschka-Marktes, weiß dass, wenn Ruslan abends nicht grüßt, er wieder seine „Phase“ hat, und habe auch die beste Stelle für eine Maschrutka aus dem Stadtzentrum ausgemacht. Ich kann mich eine Woche lang durch die Stadt bewegen und mit Ausnahme der Kassiererinnen in Supermärkten und der Maschrutkafahrer nur mit Leuten sprechen, die ich schon recht gut kenne.
Heißt das, mein Leben hier ist langweilig geworden?
In gewissem Sinne wird man sicher sagen „ja, ist es“, weil es durchaus mehr Bekanntes als Unbekanntes gibt, weil Routine und Alltag keine zuhause gelassenen Begriffe sind, sondern vielmehr ein paar Monate nach mir – in Teilen sogar schon wenige Tage und Wochen nach mir – hinzugeflogen sind. In einem anderen Sinne vermag das Wort aber sich nicht der Situation gerecht zu werden, es ist zu wenig, unfertig, roh und ungenau, geradezu plump. Es hängt der Routine den faden Beigeschmack der Öde an, des nicht mehr Sehens- oder Betrachtenswerten. Sehens- hörens- ja, erlebenswert ist aber nach wie vor alles in Wolgograd. Keine Situation, kein Ereignis kann seinen Wert verlieren, dadurch, dass Teilfaktoren absehbar geworden sind. Vielmehr lädt sie dazu ein, genauer hinzusehen und einen tieferen Blick zu gewinnen, die Aufschlüsselung, Dechiffrierung des „What’s Behind the Curtain?“, denn hinter einer jeden Geste versteckt sich ein Stück Kultur, welches noch längst nicht erreicht ist, wenn die Geste routiniert, normalisiert worden ist. Die Geste muss kategorisiert werden, zwingt nach einer Sinnsuche, die immer wieder spannend sein kann. Ein Beispiel:
So wie es anfangs schien, sind die Russen ein sehr geselliges Völkchen. Es wurden mir immer eifrig Händchen ausgestreckt, Gesundheit gewünscht zur Begrüßung, meist sogar wenn man sich nicht kannte folgte eine herzliche Umarmung. Das schien alles sehr freundschaftlich hier abzulaufen. Man begegnet sich wie unter Brüdern, nicht selten wird auch dieses Wort benutzt.
„Super“, habe ich mir gedacht, „soviel Herzlichkeit, da wollen wir doch nicht geizen und zur Gegenoffensive blasen!“ Gesagt, getan begann ich also eifrig Hände zu schütteln und zu umarmen. Alles und jeden habe ich herzlich, laut und derb begrüßt. Kam anfangs auch alles ziemlich gut. Genau genommen auch jetzt noch, bis auf die eine Situation, die sich dreimal in der Woche abspielte, wenn ich ins Kinderzentrum kam und auch Elena und Ina die Hände fest drückte, nachdem ich mit einem lauten „Здорово!“ eingetreten war. Da sahen mich einige Kinder immer ein wenig hilflos-verwirrt an. Vor einiger Woche hat man mich dann aufgeklärt: Frauen darf man auf keinen Fall auch nur die Hand drücken. Das ist völlig unschicklich und „geht gar nicht“. Klar ist mir Russland auch schon vorher als „Great Empire“ des Machotums bekannt geworden, aber das wusste ich noch nicht. Bei Begrüßungen sind Frauen so zu sagen zweiten Ranges. Man darf ehrfurchtsvoll die Hand ergreifen, wenn die Dame sie einem hinhält, umgekehrt allerdings nie die seine anbieten geschweige denn, dass man eine Frau ähnlich herzlich mit „Schwester“ grüßen würde, wie man einen Kerl mit „Bruder“ ansprechen darf. Kurioses Land könnte man denken und es damit auf sich ruhen lassen. Dann fiele wirklich die erlernte Geste in die blanke, langweilige Routine. Geht man allerdings weiter, sucht nach Parallelen in anderen Situationen, verknüpft Verhaltensweisen miteinander, so kommt man zu einem interessanten Gesamtbild, welches allerdings fast nie stehen bleiben kann, sondern aufgrund seiner Fülle ewig-progressiv bleibt.
Eigentlich sollte dieser Bericht länger werden, aber irgendwann ist mir die Power ausgegangen, man verzeihe mir.
Donnerstag, 6. März 2008
Italiener oder Tschetschene? – auf jeden Fall ein guter Freund
Da ich vor kurzem oder längerem gebeten wurde mal einen Artikel über Marco zu schreiben, will ich dem heute einmal nachkommen. Sicher wird dieser weniger witzig, weniger zynisch als andere, da man sich bei ihm über weniges, wenn überhaupt über etwas wirklich lustig machen kann. Trotzdem ist es mehr als angebracht diesen einmal ausdrücklich zu erwähnen – nicht zuletzt, weil er der Herr dieses Hauses ist und ein wirklich einmaliger Mensch dazu.
Was sollte man über meinen besten Freund in Wolgograd wissen?
Nun, er ist etwa 1,80 groß, hat etwas dunklere Hautfarbe und schwarze Haare, braune Augen, wie es sich ja auch für einen echten Italiener gehört. Russen stufen den meist unrasierten Südländer zumeist allerdings als Afghanen oder Tschetschenen ein, was gerade im Sommer sehr witzig war, als ich immer, wenn ich mit ihm irgendwohin fuhr, darauf angesprochen wurde, woher ich denn komme. „Aus Deutschland, ich arbeite als Freiwilliger hier in einer kirchlichen Organisation“, war dann immer meine Antwort, worauf Marco dann bemerkte, dass auch er Ausländer sei, aus Italien komme und auch hier arbeite. Wenn davon überhaupt Notiz genommen wurde, dann höchstens ein müdes Zucken mit den Augenbrauen nach dem Motto: „Was will der Tschetschene sich denn bitte interessant machen?“ Dann kam man wieder auf mich zurück, woher genau ich komme, dass die Leute Verwandte in Deutschland hätten und so weiter. Einmal, so erzählte mir Marco, kam diese nicht ganz vorurteilsfreie Verknüpfung zwischen seinem Aussehen und seiner Herkunft sogar zu offener Abneigung, wenn man das nicht sogar schon Rassismus nennen darf. Er saß, von Italien kommend, in Moskau fest, weil Nebel den Abflug verhinderte. Über Nacht stellte dann die Airline ein Hotel mit Doppelzimmern zur Verfügung. Als sich dann immer zwei Fluggäste zu einem Pärchen zusammenfinden sollten, bekam Marco zunächst gar keinen Partner, bis er schließlich mit einem anderen Reisenden zusammen übrig blieb. Dieser trat dann leise an den Herrn von der Airline heran und bat ihn um ein Einzelzimmer, welches er aus unerfindlichen Gründen bräuchte. So stand Marco endlich allein dort und wurde in ein zweites Einzelzimmer verfrachtet, da alles Angst vor dem dunklen, tschetschenischen Terroristen hatte.
Über Marco gibt es ansonsten noch ziemlich viel zu wissen, wohl zuviel, um es hier niederzuschreiben.
Unendlich dankbar bin ich ihm beispielsweise für die wohl aufopferungsvolle Arbeit anfangs, als ich hier just rüber geflogen war und er sich mit mir einige Abende lang auf die Terrasse gesetzt hat, zwei Bier öffnete, das Nardi-Spiel auspackte, Zigaretten auf den Tisch legte und wir einfach begannen zu spielen – learning by doing. Dann entwickelten sich meist sehr interessante Gespräche, die sich an gemeinsamen Interessen entlang hangelten. So ging es über Philosophie und Theologie, über Musik oder meine neuen Mitbewohner, über die es natürlich auch einiges Wissenswertes gab. Wie wir uns dort unterhielten ist sicherlich auch interessant zu wissen. Wir hatten kurzerhand einen eigenartigen Sprachmix dafür entwickelt, welcher aus Latein, Alt-Italienisch, Englisch und ein paar Brocken Russisch bestand, mit dem wir, meist noch behelfsmäßig gestikulierend und mimend, im Grunde alles mit der Zeit besprechen konnten. Und davon, von der Zeit, hat er sich jede Menge genommen. Häufig blieben wir nach dem Abendessen direkt sitzen und fingen an zu reden. Manchmal bis ein oder zwei Uhr in der Nacht. Es ließ sich immer irgendein Thema finden und hat mir direkt am Anfang enorm geholfen Begriffe zu lernen, die mehrfach aufkamen und mich gleichzeitig gut davon abgelenkt, dass ich in einer völlig anderen Welt war. Denn sobald ich hinter mir hier das Tor unseres Innenhofes geschlossen habe (das ist natürlich mittlerweile immer noch so, aber bemerkenswert ist es, dass es direkt von Anfang an so war), fühlte ich mich sicher und zuhause. Dazu tat sicher die warme Atmosphäre solcher Gespräche ihren Teil dazu.
Wichtig ist sonst noch zu wissen, dass Marco ziemlich viele interessante Ansichten hat. Nein, ich will den Schuh noch anders aufziehen, damit ich mich besser verständlich mache.
Wer kennt sie nicht, die Aversion, wenn man sich mit ein paar Leuten im gleichen Alter trifft, vielleicht kennt man sich schon ein bisschen, aber noch nicht so wirklich, alsdass man die anderen zu seinem Freundeskreis zählen würde, nicht so, dass man gewisse Einstellungen schon kennt, also einen tieferen Eindruck von jedem gewonnen hat, dann das Thema abgleitet und sich jemand entschleiert mit: „Ich bin Vollblut-Katholik“ oder „In der Bibel steht…“ oder auch nur der simple Satz „Ich glaube an Gott“. Nicht, dass ich nicht Katholik wäre, nicht die Bibel kennen würde oder nicht an Gott glaubte, aber dieses offene Bekenntnis dazu lässt in meinem Kontrollzentrum nicht selten das rote Lämpchen mit der Aufschrift „Jungchristlicher Fanatismus“ aufleuchten. Da kommen Erinnerungen an einige völlig verwirrte Geister vom Weltjugendtag, neben Bildern aus dem Film „Dogma“ vom „hippen Jesus“ hoch. Das Blinken des roten Lämpchens geht dann einher mit dem Aufstellen meiner Nackenhaare und dem instinktiven Bedürfnis die Runde zu verlassen, um mit niemandes Unmut zuzuziehen. Von Marco könnte allerdings einer der oben genannten Sprüche auch kommen. Aber das rote Lämpchen bleibt dunkel. Die Alarmglocke geht nicht los. Woher kommt das?
Zum einen, weil ich weiß, dass Marco ein Leben mit vielen Ups und Downs durchlebt hat. Er hat eine behinderte Schwester, die in der Schule stets gehänselt wurde und mit der er zusammen jeden Tag im Schulbus fuhr und somit auch unter die Räder des Mobbings kam. Dann lebte er in vollen Zügen die 80er und frühen 90er aus, um schließlich aber sogar in der Drogenszene zu landen, ein Programm dagegen mitzumachen und endlich in die Gemeinschaft einzutreten und nach Russland zu fahren. Wenn so ein Mensch seine Erfahrungen weitergibt muss man einfach zuhören. Wenn man weiß, mit was für Menschen er sich hier entschieden hat seit nunmehr acht Jahren zusammen zu leben, nimmt man ihm auch ab was er von Nächstenliebe erzählt und kann es nicht auf den großen Haufen der leeren Parolen schieben. Wahrscheinlich war mir der Glaube an Events wie dem WJT oder in anderen Kontexten häufig schlicht zu seicht. Er hatte keinen Tiefgang und schien ein Witz im Verhältnis zu moderner Philosophie zu sein. Ich will nicht leugnen, dass ich diese deswegen auch häufig bei Weitem attraktiver fand, aber was kann man denn bitte auch schon an einer Durchschnittspredigt in einem durchschnittlichen Dorf (ich meine das durchaus nur statistisch) als jugendlicher Gymnasiast interessant, attraktiv finden? Dabei gibt es auch in der langen Tradition der katholischen Denker eine lange Reihe von Köpfen, die sich mit modernen Philosophen durchaus messen können, bzw. meiner Meinung nach diese noch bei Weitem übertreffen. Vergleicht man nur einmal Schopenhauers lächerliche geistige Einmauerung vom psychischen Determinismus mit Thomas von Aquins Teilvorwegnahme des Existenzialismus, so kann man nicht (wie im Übrigen auch immer noch in der Schule gelehrt wird) von geistigem Stillstand im – von der Kirche regierten! – Mittelalter sprechen. Gerade weil Marco aber auch solche Denker kennt und gern ließt und sich offen über alles unterhält, macht es so unendlich viel Spaß mit ihm zu sprechen, zu diskutieren. Jemand der freiwillig und nur aus Glaubensgründen nach Russland kommt kann keinen „seichten Glauben“ haben und zieht das Interesse einfach auf sich.
Auch sehr wichtig zu wissen ist, dass Marco unglaublich gut kocht und deswegen die Mägen hier im Haus immer zur Zufriedenheit aller gesättigt sind. Sicherlich kocht er als Italiener meist Makkaroni oder Pizza, aber im Grunde ist die Auswahl an Soßen und Zutaten so groß, dass es geschmacklich meist nicht zu fade wird.
Zur Tradition erhoben haben Marco und ich in der Woche um 22:30 Uhr South Park auf MTV anzugucken, weil das selbst mit der russischen Synchronisation noch sehr witzig ist und so zumeist den Schlusspunkt des Tages bildet.
Bevor ich mich nun mit dem Schreiben wieder direkt übernehme belasse ich es lieber bei diesem kurzen Artikel und verabschiede mich bis zum nächsten Mal.
Jörg
Was sollte man über meinen besten Freund in Wolgograd wissen?
Nun, er ist etwa 1,80 groß, hat etwas dunklere Hautfarbe und schwarze Haare, braune Augen, wie es sich ja auch für einen echten Italiener gehört. Russen stufen den meist unrasierten Südländer zumeist allerdings als Afghanen oder Tschetschenen ein, was gerade im Sommer sehr witzig war, als ich immer, wenn ich mit ihm irgendwohin fuhr, darauf angesprochen wurde, woher ich denn komme. „Aus Deutschland, ich arbeite als Freiwilliger hier in einer kirchlichen Organisation“, war dann immer meine Antwort, worauf Marco dann bemerkte, dass auch er Ausländer sei, aus Italien komme und auch hier arbeite. Wenn davon überhaupt Notiz genommen wurde, dann höchstens ein müdes Zucken mit den Augenbrauen nach dem Motto: „Was will der Tschetschene sich denn bitte interessant machen?“ Dann kam man wieder auf mich zurück, woher genau ich komme, dass die Leute Verwandte in Deutschland hätten und so weiter. Einmal, so erzählte mir Marco, kam diese nicht ganz vorurteilsfreie Verknüpfung zwischen seinem Aussehen und seiner Herkunft sogar zu offener Abneigung, wenn man das nicht sogar schon Rassismus nennen darf. Er saß, von Italien kommend, in Moskau fest, weil Nebel den Abflug verhinderte. Über Nacht stellte dann die Airline ein Hotel mit Doppelzimmern zur Verfügung. Als sich dann immer zwei Fluggäste zu einem Pärchen zusammenfinden sollten, bekam Marco zunächst gar keinen Partner, bis er schließlich mit einem anderen Reisenden zusammen übrig blieb. Dieser trat dann leise an den Herrn von der Airline heran und bat ihn um ein Einzelzimmer, welches er aus unerfindlichen Gründen bräuchte. So stand Marco endlich allein dort und wurde in ein zweites Einzelzimmer verfrachtet, da alles Angst vor dem dunklen, tschetschenischen Terroristen hatte.
Über Marco gibt es ansonsten noch ziemlich viel zu wissen, wohl zuviel, um es hier niederzuschreiben.
Unendlich dankbar bin ich ihm beispielsweise für die wohl aufopferungsvolle Arbeit anfangs, als ich hier just rüber geflogen war und er sich mit mir einige Abende lang auf die Terrasse gesetzt hat, zwei Bier öffnete, das Nardi-Spiel auspackte, Zigaretten auf den Tisch legte und wir einfach begannen zu spielen – learning by doing. Dann entwickelten sich meist sehr interessante Gespräche, die sich an gemeinsamen Interessen entlang hangelten. So ging es über Philosophie und Theologie, über Musik oder meine neuen Mitbewohner, über die es natürlich auch einiges Wissenswertes gab. Wie wir uns dort unterhielten ist sicherlich auch interessant zu wissen. Wir hatten kurzerhand einen eigenartigen Sprachmix dafür entwickelt, welcher aus Latein, Alt-Italienisch, Englisch und ein paar Brocken Russisch bestand, mit dem wir, meist noch behelfsmäßig gestikulierend und mimend, im Grunde alles mit der Zeit besprechen konnten. Und davon, von der Zeit, hat er sich jede Menge genommen. Häufig blieben wir nach dem Abendessen direkt sitzen und fingen an zu reden. Manchmal bis ein oder zwei Uhr in der Nacht. Es ließ sich immer irgendein Thema finden und hat mir direkt am Anfang enorm geholfen Begriffe zu lernen, die mehrfach aufkamen und mich gleichzeitig gut davon abgelenkt, dass ich in einer völlig anderen Welt war. Denn sobald ich hinter mir hier das Tor unseres Innenhofes geschlossen habe (das ist natürlich mittlerweile immer noch so, aber bemerkenswert ist es, dass es direkt von Anfang an so war), fühlte ich mich sicher und zuhause. Dazu tat sicher die warme Atmosphäre solcher Gespräche ihren Teil dazu.
Wichtig ist sonst noch zu wissen, dass Marco ziemlich viele interessante Ansichten hat. Nein, ich will den Schuh noch anders aufziehen, damit ich mich besser verständlich mache.
Wer kennt sie nicht, die Aversion, wenn man sich mit ein paar Leuten im gleichen Alter trifft, vielleicht kennt man sich schon ein bisschen, aber noch nicht so wirklich, alsdass man die anderen zu seinem Freundeskreis zählen würde, nicht so, dass man gewisse Einstellungen schon kennt, also einen tieferen Eindruck von jedem gewonnen hat, dann das Thema abgleitet und sich jemand entschleiert mit: „Ich bin Vollblut-Katholik“ oder „In der Bibel steht…“ oder auch nur der simple Satz „Ich glaube an Gott“. Nicht, dass ich nicht Katholik wäre, nicht die Bibel kennen würde oder nicht an Gott glaubte, aber dieses offene Bekenntnis dazu lässt in meinem Kontrollzentrum nicht selten das rote Lämpchen mit der Aufschrift „Jungchristlicher Fanatismus“ aufleuchten. Da kommen Erinnerungen an einige völlig verwirrte Geister vom Weltjugendtag, neben Bildern aus dem Film „Dogma“ vom „hippen Jesus“ hoch. Das Blinken des roten Lämpchens geht dann einher mit dem Aufstellen meiner Nackenhaare und dem instinktiven Bedürfnis die Runde zu verlassen, um mit niemandes Unmut zuzuziehen. Von Marco könnte allerdings einer der oben genannten Sprüche auch kommen. Aber das rote Lämpchen bleibt dunkel. Die Alarmglocke geht nicht los. Woher kommt das?
Zum einen, weil ich weiß, dass Marco ein Leben mit vielen Ups und Downs durchlebt hat. Er hat eine behinderte Schwester, die in der Schule stets gehänselt wurde und mit der er zusammen jeden Tag im Schulbus fuhr und somit auch unter die Räder des Mobbings kam. Dann lebte er in vollen Zügen die 80er und frühen 90er aus, um schließlich aber sogar in der Drogenszene zu landen, ein Programm dagegen mitzumachen und endlich in die Gemeinschaft einzutreten und nach Russland zu fahren. Wenn so ein Mensch seine Erfahrungen weitergibt muss man einfach zuhören. Wenn man weiß, mit was für Menschen er sich hier entschieden hat seit nunmehr acht Jahren zusammen zu leben, nimmt man ihm auch ab was er von Nächstenliebe erzählt und kann es nicht auf den großen Haufen der leeren Parolen schieben. Wahrscheinlich war mir der Glaube an Events wie dem WJT oder in anderen Kontexten häufig schlicht zu seicht. Er hatte keinen Tiefgang und schien ein Witz im Verhältnis zu moderner Philosophie zu sein. Ich will nicht leugnen, dass ich diese deswegen auch häufig bei Weitem attraktiver fand, aber was kann man denn bitte auch schon an einer Durchschnittspredigt in einem durchschnittlichen Dorf (ich meine das durchaus nur statistisch) als jugendlicher Gymnasiast interessant, attraktiv finden? Dabei gibt es auch in der langen Tradition der katholischen Denker eine lange Reihe von Köpfen, die sich mit modernen Philosophen durchaus messen können, bzw. meiner Meinung nach diese noch bei Weitem übertreffen. Vergleicht man nur einmal Schopenhauers lächerliche geistige Einmauerung vom psychischen Determinismus mit Thomas von Aquins Teilvorwegnahme des Existenzialismus, so kann man nicht (wie im Übrigen auch immer noch in der Schule gelehrt wird) von geistigem Stillstand im – von der Kirche regierten! – Mittelalter sprechen. Gerade weil Marco aber auch solche Denker kennt und gern ließt und sich offen über alles unterhält, macht es so unendlich viel Spaß mit ihm zu sprechen, zu diskutieren. Jemand der freiwillig und nur aus Glaubensgründen nach Russland kommt kann keinen „seichten Glauben“ haben und zieht das Interesse einfach auf sich.
Auch sehr wichtig zu wissen ist, dass Marco unglaublich gut kocht und deswegen die Mägen hier im Haus immer zur Zufriedenheit aller gesättigt sind. Sicherlich kocht er als Italiener meist Makkaroni oder Pizza, aber im Grunde ist die Auswahl an Soßen und Zutaten so groß, dass es geschmacklich meist nicht zu fade wird.
Zur Tradition erhoben haben Marco und ich in der Woche um 22:30 Uhr South Park auf MTV anzugucken, weil das selbst mit der russischen Synchronisation noch sehr witzig ist und so zumeist den Schlusspunkt des Tages bildet.
Bevor ich mich nun mit dem Schreiben wieder direkt übernehme belasse ich es lieber bei diesem kurzen Artikel und verabschiede mich bis zum nächsten Mal.
Jörg
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