Sonntag, 20. Januar 2008

Elysta – Buddhismus und Bauchweh

Nun mache ich mich, frisch aus Elysta zurückgekehrt wieder daran einen Artikel zu schreiben. Gerade vor ein paar Minuten habe ich mich mit „New Old Songs“ versorgt. „New“, weil ich die ganzen Kisten nicht hatte, „old“ weil die Klamotten vor circa sechs Jahren zu meinen Lieblingsliedern gehörten und nun habe ich sie endlich (mal – ich erinnere mich, dass Lars sie mir vor etwa zwei Jahren brennen musste) wieder. Die Rede ist von einem der wohl längsten Alben, die je produziert wurden: Limp Bizkit: „Chocolate Starfish and the Hot Dog Flavored Water“. Dieses Meisterwerk des „Dicke-Hosen-Rocks“ musste David mir besorgen. Der hatte das nämlich noch in einer CD-Sammlung mit. Also zurück zum Thema. Ich mache mich nun mit viel „Fuck“ an die Beschreibung meines Wochenendes in Elysta.
Am besten beginne ich am Donnerstagabend. Ich hatte morgens vom Arzt die Bestätigung erhalten, dass meine Magenschmerzen wohl mit einer Diät und meine Kopfschmerzen mit ein paar Tabletten zu bekämpfen seien. Erleichtert rief ich David an. Die Parole – so kurz wie prägnant: „Kauf dir ´n Ticket – wir können fahren!“ Müde vom anderen Ende der Leitung: „Mach` ich morgen. Werde erst abends ankommen. Nachmittags noch was zu tun.“ Dann schnell die Sachen gepackt und geduscht, um morgens früh um halb sieben das Haus verlassen zu können, damit ich gegen alle Maschrutka-Unpünktlichkeiten gefeit sein würde.
Ruslan hatte sich bereit erklärt mich am Busbahnhof abzuliefern und so warteten wir schließlich gemeinsam in dem schmutzigen Gebäude auf den Autobus, der mich nach Kalmykien bringen sollte. Schnell noch ein paar Kekse eingekauft und dann ging es auch schon los. Als ich in den (im Übrigen sehr sauberen und warmen) Bus stieg ging mir sofort das Herz auf. Ich hatte den Premiumplatz direkt in der zweiten Reihe leicht versetzt hinter dem Fahrer, von dem man wunderbar nach vorne gucken kann, um die verschneite Landschaft zu betrachten, die sich dann – soweit der Plan – mit ein paar netten Riffs von den Stones und Leningrad zu einer unendlichen aus der Maschrutka blickend zu erobernden Weite verbinden sollte. Ich saß noch nicht ganz mit dem pelzbezogenen Hintern (ich trage mittlerweile eine pottenhäßliche aber höllisch warme Schuba) auf meinem Platz, als Anzeichen vom Fahrersitz mir das Ende meines Tagtraumes andeuteten. Der etwa fünfzigjährige Wagenführer hatte sich danach erkundigt, ob er mein Gepäck nicht in den Kofferraum packen sollte, worauf ich antwortete, dass das nicht nötig sei, da ich eh noch mal dran müsste. Ohne Akzent bekomme ich das allerdings immer noch nicht rüber, sodass der werte Herr sofort einen Grund sah seine Aufmerksamkeit auf mich zu fokussieren. Als Deutscher in Russland bin ich schon daran gewöhnt ein bisschen „besonders“ zu sein, zumal ich auf die Frage, ob ich Tourist sei, immer wahrheitsgemäß mit „nein“ antworte, was den Leuten hier immer sehr merkwürdig vorkommt. So hatte ich die Worte in meinem Mund bereits in Schlachtordnung positioniert, um meinen Traum von paradiesischen Weiten in weißem Einklang zwischen Ipod und mir zu verteidigen. Der Kampf begann: „Woher kommst du?“ „Deutschland“. Ruhiges Abtasten wie viel das Gegenüber wissen will. Hin und wieder kann es damit schon getan sein. Gerade für jüngere Russen sind Amerikaner interessanter, aber bei dem Alten half die kurze Antwort natürlich nichts. „Tourist? Was machst du hier?“ – nichts was man nicht schnell noch beantworten könnte, bevor wir aus der Stadt heraus sind. Aber ich hatte nicht mit diesem Wissensdurst gerechnet. Er wollte wirklich alles wissen. Wie alt ich sei, wie lange ich noch hier sein werde, wie lange ich schon sei, was alternative Dienste seien, wie lange man in Deutschland zur Armee müsse, ob ich nicht zustimmen müsste, wenn er sagt, dass die Deutschen bald auch alle in den Irak ziehen würden, ob in Deutschland die Straßen auch so schlecht seien wie in Russland, Komplimente, dass ich so ordentlich sei und das Papier meiner Kekse in meinen eigenen Rucksack zurückstecke, anstatt es wegzuwerfen, ob ich schon wisse, dass in Russland alle Menschen korrupt seien, dass es so viele Probleme mit Drogen gibt, ob das in Deutschland auch so sei, bla, bla, bla. Irgendwann musste ich alles auf eine Karte setzen: Der große Schlag musste her, auch wenn er zum Super-GAU werden könnte, in dem Fall, dass ich ihm damit zu nahe treten würde. Aber in einem günstigen Moment, als er just keine Frage parat hatte, nahm ich mir schnell die Stöpsel und drehte die Mucke einfach auf. Als ich sah, dass seine Blicke durch den Rückspiegel wieder die meinen suchten, beschloss ich mich schlafend zu stellen. Das funktionierte. Leider aber nur zu gut. Ich hatte kaum die ersten paar Songs durch und begann das Szenario auf mich einwirken zu lassen, als mir die Augenlieder zufielen und ich erst wieder in einer recht runtergekommenen Gegend wieder aufwachte. Das bekam der Fahrer natürlich auch mit und begann sogleich wieder mich anzuquatschen, was ich aber durch intensives Kopfnicken im Rhythmus irgendwelcher Beats am Ende meiner Playlist abwehren konnte. Etwa zwei Stunden vor Elysta bemerkte ich dann den zweiten Nachteil meines Platzes: Der Fußraum war geradezu ein Witz. Dreißig Zentimeter lassen einen nach vier Stunden Fahrt schon mal Parallelen zu Legehennen ziehen. Als ich dann endlich aus dem Bus aussteigen durfte (auf den letzten zwanzig Kilometern gewann der Busfahrer dann doch noch gegen die Queens of the Stoneage), machte sich ein großer Begriff in meinem Kopf breit: Erlösung. Jetzt konnte der Urlaub beginnen. Kein nerviges Gequatsche, soviel Beinfreiheit wie ich will und befreit von der Nikotinabstinenz während der Fahrt.
Elysta selbst schien zunächst eine recht gewöhnliche russische Stadt zu sein: Plattenbauten, schlechte Straßen, stinkende Autos, überall kleine Tante-Emma-Lädchen, in denen man das Nötigste einkaufen kann. Vielleicht ein bisschen sauberer als der Stadtteil Wolgograds, in dem ich wohne und ein paar mehr Kreisverkehre (die in Russland eine umgekehrte Vorfahrtsregelung haben, weswegen die recht verwirrend sind). Als ich mich aber kurz umsah auf dem Busbahnhof sprang sofort ein großer Unterschied ins Auge. Wenn ich recht auf die Uhr gesehen hatte konnten wir noch nicht in China sein, während die Leute alle sehr asiatisch aussahen. Sofort erinnerte ich mich an ein Gespräch vor zwei Tagen, als man mir sagte, ich könne mir eine Reise in den fernen Osten sparen, wenn ich nach Kalmykien käme. Diese Bauernweisheit sollte sich bewahrheiten. Gerade bei den Kurztrips durch das Zentrum offenbarte sich die buddhistisch geprägte Kultur der Stadt. Ob Straßenlaternen, Denkmähler oder Tempel – Elysta zeigt an jeder Ecke seinen asiatischen Einfluss.
Bei Alberta angekommen gab es erstmal ein Wiedersehen mit Svetlana, Katja, Tonja, Ilja und Elsa. Ich kannte bereits alle von Besuchen in Wolgograd und nun hatte ich es endlich zum Gegenbesuch geschafft. Um kurz die Personen vorzustellen: Katja ist ein junges Mädchen von vielleicht 16 Jahren und fällt manchmal in eine gewisse Manie, weswegen sie schnell von himmelhoch-jauchzend zu tief-traurig wechselt. Meist spielt sie allerdings nur, was es anfangs nicht unbedingt leicht macht zu erraten, was nun echt und was übertrieben dargestellt ist. Svetlana sitzt im Rollstuhl, da sie keine Beine hat und muss in etwa Katjas Alter sein. Sie lernt in der Schule ein paar Brocken Deutsch, die sie auch gern präsentiert. Tonja hat das Down-Syndrom und steht total auf Männer, weswegen sie sich das ganze Wochenende tierisch gefreut hat, da außer Ilja und Giacomo, einem vor kurzem eingetroffenen italienischen Freiwilligen, auch noch David und ich da waren, sodass sie immer genügend Aufmerksamkeit für sich beanspruchen konnte. Ilja hat beinahe das Drogenentzugsprogramm abgeschlossen und macht nun seine letzten paar Wochen bei Alberta in Elysta. Er braucht eigentlich nur noch den Führerschein zu machen (als Zeichen dafür, dass man sich wieder komplett integriert hat) und kann dann gehen wohin er will. Elsa ist so etwas wie eine Haushälterin und lebt einfach so mit im Haus. Sie kümmert sich besonders wenn Alberta nicht da ist um Tonja und Svetlana.
Nun, was haben wir so unternommen? Die meiste Zeit über saßen wir eigentlich nur im Haus und haben gespielt. Hört sich langweilig an, kann allerdings ganz witzig sein, wenn man bedenkt, dass ich hier in Wolgograd höchstens hin und wieder mal Karten zu Gesicht bekomme. So war Risiko mal ein echtes Erlebnis. Ansonsten konnte ich mit meinen neu erworbenen Fähigkeiten beim „Durak“ glänzen. In der Stadt gibt es eigentlich nicht viel zu sehen. Ein paar Buddha-Statuen, eine Art Tempel und den „Hrul“ – das buddhistische Glaubenshaus. Sicher wussten wir auch vorher schon, dass man der großen, goldenen Statue des Gottes nicht den Rücken zuwenden darf, aber es war einfach zu verlockend bis ganz nach vorne zu gehen und alles aus der Nähe zu betrachten. Den ganzen Weg mussten wir aber natürlich rückwärtsgehend wieder zurücklegen, was dann weniger spaßig war (vor allem weil überall niedrige Bänke im Weg stehen). Ansonsten kann ich mit Bestimmtheit sagen, dass mir die Erfahrung dort teuer war, aber ich froh bin nicht Buddhist zu sein, da so viel Glanz und Glamour in tausend Farben einfach nicht mit Glauben vereinbar ist (zumindest meines Erachtens nach). Klar kann man sagen, dass mein Geschmack von meiner Kultur geprägt ist und ich deswegen ein paar Probleme mit den vielen bunten Schnörkeln hatte, aber es gibt schließlich auch Europäer, die auf asiatische Kultur abfahren. Zu diesen gehöre ich sicher nicht. Eine kleine Statue aus rotem Stein musste schließlich als Andenken doch noch her. In demselben Souvenirladen habe ich dann auch endlich meine Knauserigkeit überwunden und mir einen schönen Flachmann mit Lederbezug gekauft, auf dem CCCP und Hammer mit Sichel eingraviert sind. Werde ich ironischerweise wohl weniger in Russland als später zuhause in Deutschland gebrauchen, aber was soll’s.
Der zweite Tag sollte sich etwas schizophrener gestalten. Morgens war noch alles in bester Ordnung. Nach der Messe kam ich endlich in ein Internetcafé, um ein paar Mails nachzusehen, als schon zum dritten oder vierten Mal an dem Vormittag der SMS-Jingle meines Handys ging. Entnervt öffnete ich die Nachricht, um sie (als ich gesehen hatte, dass sie auf Russisch war) sofort an Katja weiter zu geben mit der Order sie durchzulesen. Als ihre Augen immer größer wurden war mir schnell klar, dass irgendetwas Außergewöhnliches drin stand. Und so war es dann auch: Völlig unverhofft und unvermittelt stand dort geschrieben, dass ich ein Handy gewonnen hatte. Alles was ich noch zu tun hatte war mich zurückzumelden, um meine Anschrift weiterzugeben. Das wurde dann auch prompt erledigt – Probleme folgten auf den Schritt. Sicher war es ja mein Handy, aber die Sim-Karte gehörte nicht mir, sondern Ina, einer Caritas-Mitarbeiterin, da ich als Ausländer keine russische Sim-Karte besitzen darf. So begann ich schleunigst nach Wolgograd zu telefonieren, um Inas Vater- und Familiennamen zu erfahren. Die ging aber leider nicht ans Telefon, weswegen ich schon aufgeben wollte, als mir einfiel, dass ich noch Sergejs Nummer besitze. Der Junge besucht nämlich schon seit einiger Zeit das Kinderzentrum und konnte mir auch direkt die richtigen Daten nennen. Mit Informationen im Kurzzeitgedächtnis riefen wir erneut an. Diesmal gab es die Anweisung eine Bilain-Telefonkarte zu kaufen, aber nicht zu benutzen. Nachdem auch das geschafft war, riefen wir wieder an und – siehe da – meine Anschrift wurde endlich notiert und ich bekam mitgeteilt, dass binnen einer Woche das Handy in Wolgograd sein wird. Ich sollte einfach mit Ina zur Post kommen und mein Geschenk abholen. Aber das ist noch nicht alles: Außerdem werden mir noch 6000 Rubel auf meine Karte gutgeschrieben. Ich weiß was ihr denkt: Das war alles nur eine nette Verarschung und nun habe ich kein Geld mehr auf dem Handy. Aber dem ist nicht so und so hoffe ich in ein paar Tagen endlich benachrichtigt zu werden. Wäre ja gar nicht mal so schlecht.
Der nächste Teil des Tages wurde von meinen geliebten Magenschmerzen überschattet, die mich direkt nach dem Essen zu einigen Spaziergängen in Richtung Toilette zwangen. Trotzdem ließ ich mich schließlich noch zum Schlittenfahren überreden. Keine gute Entscheidung. Nachdem wir etwa eine halbe Stunde gerodelt waren gingen die Krämpfe wieder los und ich wollte mich direkt wieder in stillere Gefilde begeben, als ich mich, nach einem geeigneten Platz umsehend, mitten in der Service-Wüste wieder fand. Im nahe gelegenen Schwimmbad durfte man ohne Eintrittskarte nirgendwohin und da nachmittags nur Kinder eingelassen wurden, konnte ich mir noch nicht einmal eine Karte kaufen. Toll. Russland. Auf also zum nächsten Pub – dort muss man doch Erlösung bekommen können. Aber dort wurde mir kurzerhand erzählt, dass es überhaupt keine Toilette gebe. Was übrig blieb war klar: Eine kleine hölzerne Baracke die man getrost Scheißhaus nennen darf. Als ich die Tür aufstieß kamen mir die Verwesungsgerüche von Sodom und Gomorra entgegen. Ein Blick in die „Kloschüssel“ (oder das Loch) ließ beißende Säure aus diversen Drüsen in meinen Magen fließen und die Speiseröhre machte sich zum Würgeakt bereit. Ich verzichte an dieser Stelle auf weitere Ausführung des Innenlebens der Baracke – denn es war wirklich beinahe ein Innenleben – um den geneigten Leser nicht voll und ganz in meine Situation zu verfrachten. Hin- und her gerissen zwischen einer Komplettentleerug und dem verfrühten Abmarsch Richtung Haus entschied ich mich schließlich für letzteres. Mit ein paar Tabletten und Kamillentee (sowie einer nun strenger eingehaltenen Diät) kam ich dann auch dem Magen bei und verlebte die beiden verbliebenen Tage ruhig und lustig in Elysta. Gerade abends tat es wirklich gut endlich mal wieder Deutsch sprechen zu können, da Giacomo, der eigentlich immer mit David und mir herumhing, aus Bozen kommt und somit auch recht ordentlich die Sprache der Dichter und Denker beherrscht.
Als ich am Dienstag dann schließlich von Ilja und Giacomo (David war schon früher gefahren) zum Busbahnhof gebracht wurde graute mir Übles: Ich hatte ein und denselben Autobus und natürlich auch meinen Fahrer vom Freitag. Diesmal stellte ich allerdings aus Müdigkeit auf stur: Stöpsel in die Ohren und Augen zu. So verstrichen wieder die Stunden bis ich endlich wieder in meinem geliebten Wolgograd war.
Fazit: Elysta ist die Reise wert gewesen, aber zuhause ist es immer noch am besten. Nur zu gut, dass ich mittlerweile schon zwei Plätze habe, die ich so nennen darf.




Ich werde mich demnächst an die nächste Story begeben, die sich heute zugetragen hat, aber im Moment bin ich zu müde, um sie direkt niederzuschreiben. Weswegen erfahrt ihr in ein paar Tagen.

Donnerstag, 10. Januar 2008

Kinderzentrum mit gemischten Gefühlen

„Die klebrigen Banditen“, die Hexe aus „Hänsel und Gretel“ und ich haben manchmal eins gemeinsam – wer errät ’s?
Richtig! – Kinder. Hin und wieder können einem die lieben Zwerge schon wirklich auf die Nerven gehen. Entweder werde ich einen ganzen Nachmittag damit belagert, was verschiedene Schimpfwörter auf Englisch, Französisch oder Deutsch heißen oder die Kinder wollen wissen, ob ich Prostituierte kenne oder sie aufsuche. Wenn ich ganz viel Glück habe, bekomme ich auch mal ein Pornovideo auf einem Handy vorgespielt. Dass da schon mal ein Tag als „gelaufen“ abgehakt werden muss, braucht man wohl nicht weiter zu erläutern: Gerade wenn man denkt, dass man einen Schritt geschafft hat, beweisen einem die Kleinen auf grandiose Art das Gegenteil. Auch in anderer Hinsicht laufen die Kinder im Winter Amok: Da wird in der Mensa eine Schneeballschlacht angezettelt oder herumgeschrieen oder ein Stuhl umgeworfen, weil man nicht sofort seine Suppe bekommt. Da sie das aber natürlich nie hundertprozentig bösartig meinen, scheue ich mich bisher nur noch ein wenig wirklich mit beiden Händen dazwischen zugehen, auch wenn Elena und Ina das ganz gern sehen würden, wie mir scheint.
Es gibt aber auch wirkliche Entwicklungen zu erzählen, die mich durchaus stolz machen. So war ich vor kurzem sowohl bei Slava als auch bei Sergej zuhause eingeladen. Slava wohnt im Grunde gar nicht so schlecht. Er lebt mit seiner Mutter in einer kleinen Wohnung in einer der Hinterlassenschaften der Sowjetära – dem Plattenbau. Dort gibt es ein Badezimmer, eine Toilette, eine Küche, sowie ein Zimmer für Slava allein und eines für seine Mutter. Wenn man eintritt, steht man sogar noch zunächst in einem kleinen Flur mit Garderobe und Telefonschränkchen. Klar, die Mutter arbeitet wohl jeden Tag von früh morgens bis spät abends und Slava spielt viel Computer und sieht eine Menge fern (sowohl PC als auch Fernseher hat er auf seinem Zimmer), aber er ist eigentlich ein guter Junge. Er sucht sich eine eigene, ordentliche Perspektive. So geht er regelmäßig zum Kung-Fu, wo er schon einen weißen und einen schwarzen Gürtel erworben hat. Von seinen Tricks hat er mir natürlich auch direkt ein paar vorgeführt: Kicks in die Luft, turnen an der Stange oder auf Einmachgläsern durch die Gegend laufen. Slava kennt sich ganz gut aus. In einer Runde Counterstrike habe ich ihm dann gezeigt, dass ich noch nicht ganz so eingerostet am Zeigefinger bin. Danach habe ich noch die Bekanntschaft seiner Katze gemacht (schneeweiß und sehr sympathisch – gibt keinen Laut von sich).
Im Vergleich dazu gibt es bei Sergej nicht so viel Raum. Der Junge wohnt mit seiner Mutter in einer Kammer, die so groß ist wie die Küche bei mir zuhause in Deutschland. In den so genannten „Herbergen“ geht es zu wie bei uns in Jugendherbergen: Jede Familie hat einfach ihr eigenes Zimmer – mehr nicht. Gut, kann man sagen, es geht allerdings noch schlimmer als bei Sergej, wenn beispielsweise drei Kinder mit ihrer Mutter leben (alle von verschiedenen Vätern) und auch ein Mann noch in dem Raum schläft, der aber wiederum von keinem der Kinder der Vater ist. Da kommt nachts sicher Freude auf, wenn es darum geht wer wo schlafen soll, denn durch flüchtiges Überschlagen hätte ich gesagt, dass selbst auf dem Fußboden nicht für alle Platz wäre. Nun, Sergej hat sein eigenes Bett, aber dafür ist seine Mutter auch die einzige Person, die für Geld sorgt, was natürlich an allen Ecken und Kanten sichtbar und ihm ein wenig peinlich ist. Gekocht und geduscht wird im Übrigen gemeinschaftlich auf dem Flur. Aber zurück zu meinem Besuchstag. Es wurde sehr lecker aufgetischt (Russische Waffeln mit selbst gemachter Marmelade und Tee), hinterher sind wir Rodeln gegangen und haben schließlich ein wenig ferngesehen, Hausaufgaben gemacht und ich habe mich mit der Mutter über dies und jenes unterhalten. Sie hatte einmal eine Brieffreundin in Deutschland, sagte sie. Nachdem diese aber umgezogen sei, hätten sie sich nicht mehr geschrieben, wobei sie so gern wissen würde, wie es ihrer Bekanntschaft jetzt geht. Besonders in den letzten zwanzig Minuten, die ich mich mit der Mutter unterhielt, bemerkte ich, wie stark ihr Mitteilungsbedürfnis war. Wenn ich zur Uhr sah oder kurz einwarf, dass ich eigentlich schon lange wieder hätte fahren müssen, wurde schnell wieder ein anderes Thema ausgegraben, betont, dass ich für den ganzen Tag eingeladen sei, Tee eingegossen oder auf etwas hingewiesen, sodass ich doch noch ein wenig bleiben sollte. Was Mut macht ist, dass Sergejs Mutter trotz allem noch nicht aufgegeben hat zu hoffen: Auf eine eigene Wohnung in einem der Außenbezirke der Stadt, auf bessere Arbeit, auf Freunde, die helfen. Sie klagt mit der Bitterkeit der Rechtfertigen, wenn sie betont, wie Bekannte zu Geld gekommen sind – schmutzigem Geld, aber eben genug, um ein Haus zu bauen, um etwas aus ihrem Leben zu machen. Fast mit schlechtem Gewissen nahm ich dann zum Schluss eine Tüte voller Waffeln, die ich nicht aufbekommen hatte, mit und verabschiedete mich von den beiden. Da ich bereits die nächste Einladung zu einem Tag meiner Wahl in der Tasche habe, denke ich, dass ich die über kurz oder lang sicher noch mal besuchen werde, um dann ein bisschen mehr mitzubringen als Milkaschokolade, auch wenn sie sich darüber schon sehr gefreut haben.
In den nächsten Wochen werden wir eine große Sportaktion starten, wenn ich das richtig verstanden habe. Ob ich mich da so sehr engagieren werde, bleibt aber noch mal abzuwarten, da ich bei minus 20 sicher nicht Fußball spielen werde.
Das soll’s erstmal gewesen sein, liebe Grüße an alle, die das lesen und ich hoffe, ihr seid gut ins neue Jahr gekommen.


Jörg

Von Bäumen mit Make-up und hektischer Hektik

Sonntag. Das ist Kirche. Das ist um 9:30 Uhr aufstehen, um noch schnell das Haus zu wischen, bevor man sich duscht und die Zähne putzt, irgendwo dazwischen frühstückt und dann ins Stadtzentrum fährt. Das ist schöne braune Halbschuhe einmal in der Woche vor dicken schwarzen Betontretern vorziehen dürfen, weil man nur ganz kurz in der Kälte steht. Das sind etwa 35 Minuten Predigt über die Schlechtigkeit des Menschen und den ständigen Sündenpfuhl. Das ist mit Anatoli zur Kommunion gehen. Das ist Pjelmini zum Mittag. Das ist ein kaum endender Nachmittag in gammeliger Langeweile. Sonntag ist abends kein South Park und kein guter Spielfilm.
Aber ein Adventssonntag sollte doch anders sein. Er ist ja schließlich kein „normaler“, kein Durchschnittssonntag. In Deutschland ist er das auch nicht. Da wird Sonntag zu besonders thematisiertem Sonntag. Da gibt es Wichteleien und Weihnachtstreffen von verschiedenen Vereinen, da wird schon überlegt, was man zu Weihnachten verschenken kann und Schmuck aufgehängt. Das Rot und Grün prangt einem entgegen: „Bald ist Weihnachten“ ruft jeder Schokoladen-Nikolaus, der epileptisch-leuchtende Weihnachtskitsch in den Fenstern und manchmal auch eine zarte Schicht von himmlischem Weiß. Wenn es letzteres nicht gibt, lässt man es sich zur Not durch tausend andere Möglichkeiten anzeigen.
In Russland sieht das anders aus. Sicher kann man sagen, dass das damit zusammenhängt, dass hier viele Menschen orthodox sind und daher in der Adventszeit noch nicht soviel in Richtung Weihnachten geschieht und dass für die Russen das Neujahrsfest wichtiger ist als Weihnachten im Allgemeinen. Aber das nimmt der Situation den Reiz und die Realität. Denn als jemand, der das Weihnachtsfest bis in die Tiefen der kapitalistischen Vermarktung hinein jedes Jahr erlebt hat, bietet sich ja nicht zunächst der Grund für den Unterschied, sondern der Unterschied selbst dar.
Hier findet man keinen Schmuck in den Fensterläden, keine mit tausenden von Glühbirnen beleuchteten Straßen oder ein verzeichnenswertes Aufkommen roter Zipfelmützen. Nur die Coca-Cola-Werbung ändert sich zu Weihnachten auch in Russland. Sonst bleibt alles gleich. Die Kälte bleibt kalt. Schnee und Eis bekommen hier einfach keine Kamin-Romantik. Im Gegenteil laden die Temperaturen eher zum Fluchen ein und wenn man nach einem Arbeitstag nach Hause kommt, ist man nur noch erschossen und will ins Bett.
So kann man eigentlich mit Fug und Recht behaupten, dass wir hier eine richtige Adventszeit gar nicht gehabt haben. Zumindest keine, wie ich sie aus Deutschland kenne. Dafür aber hatten wir auch kaum gezwungen-lustige Atmosphären bei Weihnachtstreffen, die eigentlich jedem zuwider sind, keine Geschenke-Last-Minute-Einkaufen-Hektik oder Besinnlichkeitsfassaden in Form von Massen an gekauftem Rot und Grün. Einmal von dieser Perspektive betrachtet, verliert der verlorene Advent seine Attraktivität und es ist gar nicht so schlecht, ihn mal so zu erleben: Simpel und entzaubert. Oder echt und ohne Kitsch. Ich stimme eher letzterem zu.
Gut, ganz ohne Kitsch sind wir dann doch nicht ausgekommen. Ohne den Geschmack meiner Mitbewohner beleidigen zu wollen – die Tanne, die immer noch in unserem Wohnzimmer steht, ist echt mal hässlich. Da hängen mehr Kilogramm Plastik-Nadeln als echte dran und die Lichterkette ist bunt und blinkt. Scheint sich allerdings wohl um russisch-typische Modeverirrungen zu handeln. So sieht man beispielsweise auch in der Kirche Entwürfe eines Glamour-Trees, der möglichst abwechslungsreich aufleuchtet und mit Tonnen irgendwelchen Mülls behangen ist. Die Krippe im Gotteshaus sollte zunächst sogar einen Springbrunnen beinhalten, worauf ich fast scherzhaft bemerken wollte, ob wir nicht auch ein paar Palmen drum herum und Fische in einen Teich platzieren sollten. Mir ist aber noch rechtzeitig eingefallen, dass jemand den Vorschlag ernst nehmen könnte und habe somit noch die Klappe gehalten.
Das Neujahrsfest ist hier dafür der ganz große Renner. An keinem anderen Tag wird wohl so viel Geld für Essen und Alkohol ausgegeben wie an Sylvester. Wir haben das Fest ganz beschaulich verbracht. Vor- und nachmittags haben wir uns ausgeruht, abends dann erstmal sehr gut gegessen. Marco hat erst Kanapees vorbereitet, dann italienische Bandnudeln mit Pilz-Rahmsoße und schließlich Erbsen mit Speckstücken und Hühnchen. Interessant war, dass man uns so gegen sechs Uhr den Strom abgedreht hat, sodass das ganze Abendessen im Kerzenlicht stattfinden musste. Die nächsten drei, vier Zigaretten wurden auch noch im Schein einer Laterne geraucht, bis wir dann zu Davor rüber gegangen sind, um dort weiter zu feiern. Dort hatte sich über die Feiertage Alberta aus Elysta mit den Kindern ihres Hauses einquartiert. Auch wir hatten Besuch. Bahira war aus Moskau angereist und Miriam kam aus Petigorsk. Wer erstere ist müsste ich eigentlich schon mal geschrieben haben. Miriam war vor ein paar Jahren die erste Bistumsfreiwillige in Astrachan und studiert nun in Petigorsk Russisch und Polnisch, um Dolmetscherin zu werden. So waren wir schließlich eine ganz schön große Truppe im Suchtprojekt. Von den Jungs haben natürlich auch alle kräftig mitgefeiert. Ständig gab es etwas zu spielen: Entweder musste man einen Apfel essen, der an einem Faden hing, während man seine Hände nicht gebrauchen durfte oder man musste in einem Kartenspiel Tiere mimen. Um zwölf Uhr gab es dann auch ein kleines Feuerwerk draußen auf der Straße. Hinterher waren wir dann noch ein wenig bei Davor (wo ich mir dann auch noch die ganze Hose eingenässt habe bei einem dieser Spiele, was dem Sternegucken recht nahe kommt. Außerdem musste ich noch „Griechischer Wein“ performen – Volker, ich habe das würdig hinbekommen – und mit Tonja, einem von Albertas Kids mit Down-Syndrom, tanzen). Danach sind wir dann nach Hause gestiefelt, um uns für die Nacht umzuziehen. Aus einer Diskonacht ist aber schließlich nichts mehr geworden, da die Eintrittspreise im Zentrum nicht mehr normal waren (1700 Rubel, etwa 50 Euro) und so sind wir schließlich zuhause geblieben, haben noch bis vier Uhr die Zigarettenschachteln unsicher gemacht und sind dann Richtung Bett verschwunden. Ein bisschen hat mir natürlich an Sylvester der Thrill von ein paar Gläsern Whiskey, Gin und Co gefehlt, das Abhängen mit Leuten, die man schon lange kennt und die dusseligen Aktionen, derer man sich teils selbst erinnert und derer man teils erinnert werden muss. Den Flickenteppichen aus unterschiedlichen Blackouts wieder bei einer Pizza und einem Konterbier am nächsten Nachmittag zu rekonstruieren hat mir immer fast so viel Spaß bereitet wie der Abend selbst. Hier war das Fest ruhiger, aber nicht unbedingt schlechter. Vor allem unter gesundheitlichen Aspekten.
Da ich gerade in Fahrt bin und noch ein wenig hier im Haus herumhängen muss (Erkältung), werde ich mich mal an die nächste Runde begeben.